Wie die „Big Tech“ Wahlprozesse beeinflusst und warum Transparenz unverzichtbar ist
Im Laufe der Jahre haben sich die Big-Tech-Unternehmen von reinen Plattformen zu großen internationalen Akteuren mit eigenen finanziellen und politischen Motiven und Verbindungen entwickelt. Ihre Rolle bei der Beeinflussung der Wahlen in Europa muss gewissenhaft unter die Lupe genommen werden.
Wie die „Big Tech“ Wahlprozesse beeinflusst und warum Transparenz unverzichtbar ist
Im Laufe der Jahre haben sich die Big-Tech-Unternehmen von reinen Plattformen zu großen internationalen Akteuren mit eigenen finanziellen und politischen Motiven und Verbindungen entwickelt. Ihre Rolle bei der Beeinflussung der Wahlen in Europa muss gewissenhaft unter die Lupe genommen werden.
Die Europäische Union wird diese Woche das Gesetz über digitale Dienste vorlegen. Neben vielen anderen Änderungen auf dem Online-Markt soll dieses für mehr Transparenz der Algorithmen sorgen, da diese derzeit undurchsichtig sind.
Dem Text zufolge sollten die nationalen Aufsichtsbehörden Zugang zu der Software-Dokumentation und den Datensätzen der zu prüfenden Algorithmen haben. Zudem sollten die besagten Algorithmen der Öffentlichkeit in einer „präzisen, transparenten, verständlichen und leicht zugänglichen Form“ präsentiert werden, und zwar durch die „Verwendung einer klaren und deutlichen Sprache“.
Diese Transparenz sollte auch für die Algorithmen der Big-Tech-Plattformen gelten, die Nachrichten verwalten, welche die Nutzer am Vorabend oder während der Wahlen dazu auffordern, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Solche Botschaften können erhebliche Auswirkungen auf die demokratischen Prozesse haben. Während die Rolle der Big Tech in den USA in den letzten Jahren einer intensiven Prüfung unterzogen wurde, haben dieselben Unternehmen, die heute eine so herausragende Rolle bei der öffentlichen Meinungsbildung spielen, auch bei den Europawahlen ein entscheidendes Mitspracherecht, und zwar in einer Weise, die alles andere als transparent ist.
Als sie gegründet wurden, waren sie freie und offene Plattformen. Inzwischen haben die Big-Tech-Unternehmen und sozialen Netzwerke ein noch nie dagewesenes Machtniveau erreicht, welches sie dazu befähigt, eine aktive Rolle in der Politik zu spielen, und im Sinne ihrer persönlichen finanziellen und politischen Motive zu handeln. Wie? Durch algorithmische Veränderungen bzw. Neuerungen, subjektive Zensur und Aufrufe zum Handeln auf ihren Plattformen.
Aufrufe zum Handeln
Facebook führte am Tag der US-Kongresswahlen 2010 eines der größten menschlichen Experimente in der Geschichte durch, indem es 61 Millionen Nutzer schriftlich an die Wahl erinnerte, d. h. rund ein Viertel der Landesbevölkerung.
Die Ergebnisse dieses Experiments wurden 2012 in einem Bericht mit dem Titel „A 61-Million-Person-Person-Experiment in Social Influence and Political Mobilization “ (Ein 61-Millionen-Personen-Experiment zur sozialen Einflussnahme und politischer Mobilisierung) veröffentlicht. Sie zeigten, dass „Vote-Buttons“ (Wahl-Knöpfe bzw. Schaltflächen) dazu beitrugen, 340.000 neue Wähler zu gewinnen. Ferner wurde deutlich, dass etwa 20 Prozent der Nutzer, die sahen, dass ihre Freunde gewählt hatten, auch auf den „I Voted“-Button („Ich habe gewählt“) klickten, im Vergleich zu 18 Prozent der Menschen, die nicht die gleiche Nachricht ihrer Freunde sahen.
Wie die Studie feststellte, entsprach dies im Jahr 2010 0,14 Prozent der gesamten stimmberechtigten Bevölkerung. In Anbetracht der Tatsache, dass die gesamte Wahlbeteiligung von 37,2 Prozent im Jahr 2006 auf 37,8 Prozent im Jahr 2010 gestiegen ist (sowohl bei Wahlen außerhalb des Jahres als auch bei Nicht-Präsidentschaftswahlen), behaupteten die Facebook-Wissenschaftler, dass „es möglich sei, dass ein größerer Teil des 0,6-prozentigen Anstiegs der Wahlbeteiligung zwischen 2006 und 2010 durch eine einzige Nachricht auf Facebook verursacht wurde“.
Der „Wahl-Button“ erscheint Tage vor der Abstimmung über den Newsfeeds und lautet: „Heute ist der Tag des Referendums“ oder „Heute ist Wahltag“. Der Nutzer hat die Möglichkeit, seinen Kontakten mitzuteilen, dass er gewählt hat. Facebook gibt jedoch nicht preis, wie viele Personen über diese Option verfügten und nach welchen Kriterien sie ausgesucht wurden.
In Europa geschah dies erstmals vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014, gefolgt vom irischen Referendum 2015 und den Wahlen in Großbritannien im selben Jahr. Auch beim Brexit-Referendum 2016, bei den Parlamentswahlen 2017 in Island und bei den Bundestagswahlen 2017 in Deutschland wurde der „Button“ eingesetzt.
Im Grunde genommen handelt es sich dabei um die Einmischung ausländischer Akteure in eine Wahl, ohne dass dies auf transparente Art und Weise geschieht, oder die Absichten offengelegt werden. Man könnte behaupten, dass Facebook die Bürgerbeteiligung am demokratischen Prozess fördern will, aber dies hat das Unternehmen nie offen ausgesprochen. „Noch nie zuvor befand sich in den Händen eines einzigen Unternehmens so viel Macht“, kommentiert Ingrid Brodnig, die österreichische digitale Botschafterin bei der EU, die Fähigkeit von Facebook, Stimmen zu beeinflussen.
Im Juli 2020 kündigte Facebook an, dass alle Personen im wahlberechtigten Alter in den USA Wahlinformationen von dem Giganten erhalten würden. Ziel sei es, vier Millionen Menschen dazu zu bewegen, sich zu registrieren oder abzustimmen bzw. „die zwei Millionen Menschen, bei deren Registrierung wir sowohl 2018 als auch 2016 geholfen haben, zu verdoppeln“, erklärte das Unternehmen.
Besonders beunruhigend ist der Mangel an Transparenz darüber, wann und bei wem dieses Verfahren eingesetzt wird. Nach anfänglicher Leugnung gab Facebook zu, es auch bei europäischen Wahlen verwendet zu haben, ohne aber klare Hinweise dafür zu geben, dass es diese Aktion entweder erneuern oder in Zukunft unterlassen wird.
Algorithmische Manipulation
Eine von Dr. Robert Epstein, einem leitenden Forscher für Psychologie am American Institute for Behavioural Research and Technology, durchgeführte Studie offenbarte die Manipulation des Suchalgorithmus von Google und machte deutlich, dass der High-Tech-Gigant fähig ist, die Wahlen auf der ganzen Welt zu beeinflussen.
Der Harvard-Absolvent kam zu dem Schluss, dass Google die Wahl-Präferenzen von etwa 20 Prozent der unentschlossenen Wähler leicht verändern kann. In bestimmten demografischen Gruppen ist dies bis zu 80 Prozent möglich, und zwar ohne dass man auch nur merkt, dass man manipuliert wird. Beispielsweise werden vorteilhafte Artikel und Informationen zu bestimmten Kandidaten angeboten, aber auch Aufrufe zum Handeln eingesetzt (Calls to Action).
Epstein fand heraus, dass Google angesichts der Tatsache, dass viele Wahlen mit geringem Vorsprung gewonnen werden, die Stärke hat, bis zu 25 Prozent der nationalen Wahlen weltweit entscheidend zu beeinflussen.
Darüber hinaus hat Google bei den US-Zwischenwahlen (Mid-Term-Elections) 2018 die Schaltfläche „Go Vote“ auf seiner Homepage und auf der Seite seiner Tochtergesellschaft YouTube verwendet. Experimente von Epstein und seinen Mitarbeitern ergaben, dass die Suche nach bestimmten Ideologien und Kandidaten konsequent begünstigt wurde, wodurch möglicherweise bis zu 78,2 Millionen Stimmen beeinflusst wurden.
Die Manipulation von Suchergebnissen durch Google ist nichts Neues. In der Tat verhängte die Europäische Union im Jahr 2017 eine Geldstrafe von 2,4 Milliarden Euro gegen den Tech-Giganten, weil er die Vergleichs-Ergebnisse zugunsten seines eigenen Shopping-Dienstes angepasst hatte.
Zu diesem Schluss kam die Kommission nach der Analyse von 1,7 Milliarden echten Google-Suchanfragen, d.h. etwa 5,2 Terabyte Datenvolumen. Es wurde festgestellt, dass das Unternehmen die Ergebnisse von konkurrierenden Online-Shopping-Diensten im Durchschnitt erst auf der vierten Seite seiner Ergebnisse platzierte.
Bei einer Anhörung vor dem US-Senat im November wurde Mark Zuckerberg vom Verfassungsjuristen Josh Hawley eindringlich über sein Wissen zu einem firmeninternen Werkzeug namens Centra befragt. Hawley hatte von einem Whistleblower Beweise dafür erhalten, wie Twitter und Google sich routinemäßig über die Plattform koordinieren würden, um Themen, Hashtags, Personen und Websites gemeinsam zu zensieren, wobei Facebook sie für die Verfolgung von Aufgaben erfasst.
Privatunternehmen oder politische Akteure?
Die Tatsache, dass es sich um „private“ Unternehmen handelt, ist oft die erste Verteidigungslinie und soll einen akzeptablen Grund für diese Aktionen darstellen. Allerdings kann man dies einfach nicht mehr als angemessene Rechtfertigung gelten lassen, zumal ihre länderübergreifende Macht und ihrer monopolistischen Kontrolle über ihre Sektoren sie zu einflussreichen internationalen Akteuren macht.
Jenseits bloßer Suchmaschinen oder sozialer Netzwerke haben sich diese Unternehmen zu wichtigen Organen in der Welt der Politik entwickelt: Sie sind vielmehr Herausgeber als reine Plattformen. Und da sich diese subtilen Veränderungen für den Ausgang von Wahlen als entscheidend erweisen können, ohne dass sich die Nutzer dessen überhaupt bewusst sind, ist zu befürchten, dass dieselben Muster, die in den USA beobachtet wurden, genauso gut auch in Europa reproduziert werden könnten.
Eine Analyse von Wired ergab, dass 95 Prozent der Wahlbeiträge der Mitarbeiter der sechs größten Big-Tech-Unternehmen – Alphabet, Amazon, Apple, Facebook, Microsoft und Oracle – seit Anfang 2019 an Joe Biden, den Präsidentschaftskandidaten der US-Demokraten, gingen. Laut den von der Bundeswahlkommission veröffentlichten Daten gingen 4.787.752 Dollar an Biden und nur 239.527 Dollar an Trump, also fast 20 Mal mehr. Auf die Mitarbeiter von Alphabet, der Muttergesellschaft von Google, entfallen 1,8 Millionen Dollar, d.h. ein Drittel der Summe, die von den sechs Tech-Giganten aufgebracht wurde, die zusammengenommen die Beiträge aller anderen Unternehmen überstiegen.
Darüber hinaus führten die Vorwürfe, Russland habe das US-Wahlergebnis 2016 zugunsten von Donald Trump beeinflusst, zu Googles algorithmischen Wechsel, der „autoritative Quellen“ – auch bekannt als politisch ausgerichtete Mainstream-Outlets – an die Spitze der Suchmaschinenergebnisse setzte. All dies diente dazu, den Informationsfluss zu vereinheitlichen. Zudem sind es genau diese Quellen, die in den Wahlinformationszentren von Facebook und Instagram an prominentester Stelle auftauchen. Und diese wurden vor der Abstimmung im Jahr 2020 bis zum 21. September von schätzungsweise 39 Millionen Menschen besucht.
Ebenfalls als Reaktion auf die russische Einflussnahme auf den US-Wahlkampf („Russiagate“) kündigte Facebook seine Partnerschaft mit dem wohl einflussreichsten geopolitischen Think Tank, dem Atlantic Council, an, um „den Schutz der Demokratie auf der ganzen Welt zu gewährleisten“ und „Fake-News“ zu bekämpfen. Allerdings meldeten seine Sponsoren (darunter Waffenhersteller, große Ölfirmen und das US-Außenministerium), sowie Führungseliten (darunter ehemalige CIA-Direktoren und US-Außenminister), Bedenken an, dass das größte soziale Netzwerk der Welt die Absichten dieser Gruppe bis zu einem gewissen Grad widerspiegeln könnte. Solche Besorgnisse sind gerechtfertigt, zumal Facebook kurz nach der Gründung dieser Partnerschaft über 500 weitestgehend unabhängige Seiten von Medienkanälen bereinigte, die überwiegend Anti-Kriegs-Narrative enthielten.
Dasselbe lässt sich über das im Mai diesen Jahres eingerichtete Oversight Board von Facebook sagen, das nun die Aufgabe hat, zu entscheiden, welche Beiträge von Facebook und Instagram zensiert werden sollten, wobei es sogar in der Lage ist, den Gründer Mark Zuckerberg zu überstimmen.
Während das Gremium stolz auf seine ethnische und rassische Vielfalt ist, gibt es wenig bis gar keine politische Meinungsvielfalt. Die Tatsache, dass alle Mitglieder politisch aktiv und 19 der 20 Vorstandsmitglieder politisch ähnlich gesinnt sind, lässt Bedenken hinsichtlich der Unparteilichkeit aufkommen, insbesondere wenn es darum geht, zu regeln, welche Beiträge auf der Plattform bleiben dürfen.
Die Europäische Union hat sich von einer solchen Einflussnahme auf ihre Wahlen verschont betrachtet, doch ihre einst strengen Big-Tech-Gesetze werden seit langem durch den enormen Anstieg der Ausgaben für Lobbyarbeit in den EU-Institutionen ausgehöhlt. Dies hat den Unternehmen eine günstige Gesetzgebung und Sitze an den wichtigsten Tischen der europäischen Politik eingebracht. Ferner erkauften sie sich mit massiven Direktinvestitionen in den Mitgliedstaaten ihre Immunität bei Ermittlungen.
Angesichts der eindeutigen politischen und finanziellen Absichten, die von den algorithmischen Feinmechaniken unterstützt werden, sowie der nahezu monopolistischen Kontrolle über ihre Sektoren und einem Mangel an Transparenz, ist es dringend notwendig, Alarm zu schlagen, und den Einfluss der Big Tech auf die europäischen Wähler unter die Lupe zu nehmen. In der Theorie sind die Bestimmungen des Gesetzes über digitale Dienste ein richtiger Schritt nach vorn. Ob sie jedoch in die Praxis umgesetzt werden, bleibt – wie in anderen Bereichen, welche die Untersuchung und Überprüfung der Aktionen der Big Tech betreffen – abzuwarten.