Überall in Europa ist Wohnen sehr kostspielig geworden
In den meisten Ländern der EU ist der Preis der Mieten und Wohnungen schneller gestiegen als die Einkommen. Wohnen ist folglich zu einem Problem geworden.
Überall in Europa ist Wohnen sehr kostspielig geworden
In den meisten Ländern der EU ist der Preis der Mieten und Wohnungen schneller gestiegen als die Einkommen. Wohnen ist folglich zu einem Problem geworden.
„Die Immobilienpreise sind schneller gestiegen als die Gehälter. Bei den französischen Arbeitnehmern löst dies das Gefühl einer zunehmenden Verarmung aus“, erklärte der Forschungs- und Studiendirektor der Investmentbank Natixis, Patrick Arthus, in einem im Oktober veröffentlichten Beitrag. Dabei geht diese heikle Frage der Unterkunft in Wirklichkeit weit über die französische Grenze hinaus. So verzeichnete ganz Europa im Jahr 2016 die größte Wohnungs-Preissteigerung seit der Finanzkrise 2008. Laut der zweiten Ausgabe des von Housing Europe publizierten Berichts zum Zustand des Wohnens in Europa stiegen die Preise 2016 um 4,4 Prozent (gegenüber 4 Prozent 2015 und 2,5 Prozent 2013). (Housing Europe ist ein Verband öffentlicher und genossenschaftlicher sozialer Wohnungsbaugesellschaften, dem 26 Millionen Wohnungen in 24 europäischen Ländern gehören.)
Rekord-Preisanstieg
Trotz erheblicher Unterschiede scheinen die europäischen Staaten zumindest ein gemeinsames Leid zu teilen: Die hohen Preise für ihre Wohnungen. „Diese Tatsache steht in klarem Widerspruch zur beruhigend-ermutigenden Rhetorik des Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, der vom wiederkehrenden Wachstum in Europa spricht. Jedoch kann ich seinen Optimismus nicht teilen“, meint der Präsident von Housing Europe, Cédric Van Styvendael.
Nicht weniger als zehn Länder haben dieses Jahr die von der Europäischen Union festgelegte Alarmschwelle von 6 Prozent jährlicher Wohnungs-Preissteigerung überschritten (inflationsbereinigt). Für Portugal liegt das Wachstum bei +6,1 Prozent, in Irland bei +6,6 Prozent, in der Tschechischen Republik bei +6,7 Prozent, und in Schweden bei 7,6 Prozent. Den Autoren des Berichts zufolge lässt sich dieser Aufwärtsdruck insbesondere durch die sich rückläufig entwickelnde Bautätigkeit erklären. Diese hat noch immer nicht den Stand erreicht, den sie vor der Krise hatte (2006 machte dieser Sektor 6 Prozent des BIP aus, 2016 waren es nur noch 3,7 Prozent).
In einigen Ländern scheint sich die Preisentwicklung zu verbessern, beispielsweise in Griechenland, in Italien, und sogar in Frankreich, wo das Preisniveau nach einem erheblichen Anstieg nahezu unverändert geblieben ist (+1 Prozent im Jahr 2016). Allerdings ist die Lage alles andere als rosig, zumal die Unterkunftspreise schneller steigen als die Haushaltseinkommen, deren finanzielle Situation sich seit der Krise generell verschlechtert hat.
Eine unverhältnismäßig große Belastung
In der Folge geben die Haushalte für ihre Unterkunft einen immer größeren Teil ihres Budgets aus. Während es im Jahr 2000 21,7 Prozent (und 2005 22,5 Prozent) waren, betrug der Anteil 2015 nahezu ein Viertel der europäischen Haushaltseinkommen, und somit das Gros ihrer Gesamtausgaben. Um ihre Unterkunft finanzieren zu können, leiden immer mehr europäische Haushalte unter einer unverhältnismäßig großen Belastung. Mit anderen Worten wenden sie mehr als 40 Prozent ihrer Einkünfte dafür auf. In Großstädten ist diese Belastung umso grösser, weil dort die Beschäftigungsmöglichkeiten konzentriert sind.
Neuankurbelung des Wohnungsbaus…
Wie kann man Abhilfe schaffen? Gewöhnlich verwenden die Regierungen gleichzeitig zwei politische Strategietypen, um den Wohnsektor zu regulieren: Einerseits die Wohngeld-Vergabe an bedürftige Haushalte (hier spricht man dann von „Nachfrage“); andererseits die Staatsausgaben für den Bau von neuen Wohnungen (demnach ist hier die Rede vom „Angebot“).
Seit der Krise ist diese zweite Komponente allerdings erheblich geschrumpft, heben die Autoren eines erst kürzlich von Housing Europe veröffentlichten Beitrags hervor. „2009 betrug der Anteil der europaweiten Staatsausgaben für Wohnmaßnahmen 47 Prozent für die Errichtung neuer Wohngebäude, und 53 Prozent für die Gewährung von Wohngeld. Heutzutage liegt diese Verteilung bei 25 und 75 Prozent.“ Dementsprechend fordern die Autoren vielmehr, die Förderung für den Bau wiederzubeleben. „Der massive Wohnungsbau in den angespanntesten Zonen würde zu einer Senkung der Mietpreise führen, und letztendlich auch die Beträge der Hilfeleistungen reduzieren“, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Pierre Madec in einem jüngst publizierten Blog-Post .
…aber nicht um jeden Preis
Allerdings muss dafür erschwinglicher Wohnraum geschaffen werden, damit nicht nur die wohlhabendsten sozialen Klassen davon profitieren können. Paradoxerweise ist die öffentliche Förderung des sozialen Wohnungsbaus seit der Krise aber deutlich zurückgegangen. Diese Haushaltskürzungen sind nur schwer zu rechtfertigen, zumal „der Bau von Sozialwohnungen gerade in der Phase nach der Krise in zahlreichen europäischen Ländern einen antizyklischen Effekt hatte“, betonen die Experten von Housing Europe. Somit steigt in ganz Europa die Zahl der Bürger, die auf eine Sozialwohnung warten. In Frankreich warten derzeit 1,9 Millionen Menschen auf die Bearbeitung ihres Antrages. 2010 lag diese Zahl bei 1,2 Millionen. In Irland hat sich diese Zahl zwischen 2008 und 2010 praktisch verdoppelt, und erreicht derzeit 96.000 Personen.
Vorsicht vor den schlechten Wohnverhältnissen
Wenn mehr gebaut werden muss, ist es dann eine Lösung, die ökologischen und sozialen Standards aufzuheben, die im Baugewerbe existieren, nur um die Baukosten zu reduzieren? Genau das sieht nämlich das im September vom französischen Minister für regionalen Zusammenhalt präsentierte „Wohnungsbauförderprogramm“ („Plan Logement“) vor. Dies ist hochfraglich. Und zwar aus gutem Grund: Die Qualität der Wohnungen in Europa hat bereits stark abgenommen, wie ein im März publizierter Bericht der Stiftung Abbé Pierre zeigt. Folglich ist eine noch stärkere Abwärtsspirale alles andere als wünschenswert.
Die finanziell schwächsten europäischen Haushalte – insbesondere in den südlichen Ländern – sind in der Tat immer seltener in der Lage, eine passende Temperatur in ihrer Wohnung aufrechtzuerhalten. Verantwortlich dafür sind vor allem Isolationsprobleme. Im Jahr 2015 fiel es nahezu einem Viertel der unter der Armutsgrenze lebenden europäischen Haushalte (23,5 Prozent) schwer, ihre Unterkünfte angemessen zu heizen, was einer Zunahme von 2,4 Prozentpunkten seit 2009 entspricht. Betrachtet man die gesamte Bevölkerung ist dieses Verhältnis um die 10 Prozent relativ stabil geblieben. Bezüglich ihrer Unterkünfte ist das Leben von nahezu 11 Millionen europäischen Haushalten von beträchtlichen Entbehrungen geprägt.
Übersetzung von Julia Heinemann – VoxEurop