Männer, Heilige und Europäer*innen: Wen man in den Straßen der europäischen Hauptstädte am häufigsten findet
Im Rahmen von Mapping Diversity haben wir eine Rangliste der Persönlichkeiten erstellt, die am häufigsten in den Straßennamen von 15 europäischen Hauptstädten vorkommen. Männer weißer ethnischer Herkunft überwiegen bei weitem; der Anteil an religiösen Figuren ist sehr hoch.
Welcher Person sind die meisten Straßen in europäischen Hauptstädten gewidmet? Um das herauszufinden, haben wir im Rahmen von Mapping Diversity , einem Projekt unter der Leitung von OBC Transeuropa in Zusammenarbeit mit acht anderen Partnern des European Data Journalism Network, rund 95.000 Straßennamen in 15 Städten analysiert.
Die Gewinner sind der Heilige Paulus und Ludwig van Beethoven, nach denen jeweils mindestens eine Straße in 13 bzw. 12 Städten benannt wurde. Die meisten Straßen sind jedoch der Jungfrau Maria gewidmet: Obwohl in weniger Städten Straßen oder Plätze nach ihr benannt sind (11) als bei Paulus und Beethoven, sind ihr oder einem ihrer zahlreichen Beinamen immerhin 69 verschiedene Straßen gewidmet.
Sie ist ein Sonderfall: In der Rangliste der 100 beliebtesten Personen in den Straßennamen der europäischen Hauptstädte finden sich nur sechs Frauen. Neben Maria von Nazareth stehen drei weitere christliche Heilige (Anna, Barbara und Maria Magdalena) auf der Liste, des Weiteren die griechisch-römische Göttin Artemis/Diana und die französisch-polnische Wissenschaftlerin Marie Curie, die einzige weltliche Frauengestalt aus der jüngeren Zeit. Einige dieser Frauen werden auch hauptsächlich wegen ihrer emotionalen Verbindung zu berühmten Männern wie Jesus von Nazareth und Pierre Curie gefeiert. So wird der Name von Pierre Curie in den Straßen Europas fast immer zusammen mit dem Namen seiner Frau genannt.
Diese Analyse umfasst die folgenden 15 Hauptstädte: Athen, Berlin, Brüssel, Budapest, Bukarest, Chisinau, Kopenhagen, Kyiv, Paris, Prag, Rom, Stockholm, Warschau, Wien und Zagreb. Die Rangliste der populärsten Persönlichkeiten basiert auf der Anzahl der Städte, in denen die jeweilige Figur im Namen einer oder mehrerer Straßen auftaucht, und in zweiter Linie auf der Anzahl der ihr gewidmeten Straßen.
Mehrere andere christliche Heilige stehen an der Spitze der Liste, in der auch einige weltliche Persönlichkeiten, ausschließlich Männer, zu finden sind. Klassische Komponisten wie Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart sind hier zu nennen, aber auch der eher unerwartete Jean Sibelius, ein Finne, der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebte. Darüber hinaus sind viele Wissenschaftler vertreten: Der französische Chemiker Louis Pasteur, der britische Naturforscher Charles Darwin, der schwedische Botaniker Carl Linnaeus und der amerikanische Erfinder Thomas Edison. Ergänzt wird die Top 15 vom russischen Schriftsteller Lew Tolstoi – nach Beethoven die zweitwichtigste nicht-religiöse Persönlichkeit – und dem dänischen Schriftsteller Hans Christian Andersen.
Heilige und Nobelpreisträgerinnen
Von den fünfzehn beliebtesten weiblichen Persönlichkeiten sind nur sieben nicht-religiöse Figuren. Bei den ersten drei handelt es sich um Marie Curie, Bertha von Suttner und Selma Lagerlöf, die jeweils als erste Frau den Nobelpreis in ihrer Kategorie erhalten haben: Physik/Chemie, Frieden und Literatur. Marie Curie erhielt 1903 zusammen mit ihrem Ehemann Pierre Curie und Antoine Henri Becquerel den Preis für Physik und 1911 – diesmal allein – den Preis für Chemie. Die österreichisch-böhmische Schriftstellerin Bertha von Suttner veröffentlichte 1889 den Bestseller „Die Waffen nieder“, der zusammen mit ihrem Engagement für den Pazifismus ihren Freund Alfred Nobel dazu inspirierte, einen Preis für die Förderung des Friedens zu vergeben. Die Arbeit der österreichisch-schwedischen Physikerin Lise Meitner hingegen wurde vom Nobelpreiskomitee nicht gewürdigt: Trotz ihrer entscheidenden Rolle bei der Entdeckung der Kernspaltung erhielt nur ihr männlicher Kollege Otto Hahn den Preis.
Männer als Schöpfer, Frauen als Ausführende
Betrachtet man die Tätigkeitsbereiche, die die 100 populärsten Frauen und 100 populärsten Männer in den Toponymen der europäischen Hauptstädte berühmt gemacht haben, so fallen erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede auf. So werden 12 Frauen fast ausschließlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Adelsgeschlecht oder als Gemahlin eines Herrschers genannt. Natürlich gibt es auch in den männlichen Top 100 adelige Persönlichkeiten, die aber eine prominentere Rolle im politischen oder kulturellen Leben spielen konnten.
Auch in den Bereichen Wissenschaft und Kunst gibt es deutliche Kontraste. Abgesehen davon, dass keine Malerinnen vertreten sind, ist bei den Positionen ein auffälliger Unterschied zu erkennen: Alle Männer aus der Welt der Musik waren Komponisten, während Frauen fast ausschließlich Sängerinnen waren. Ebenso waren so gut wie alle Frauen aus der Film- oder Theaterwelt Schauspielerinnen – nur bei einer einzigen handelte es sich um eine Regisseurin: die Belgierin Chantal Akerman, deren Film „Jeanne Dielman“ letztes Jahr von der britischen Filmzeitschrift Sight and Sound zum besten Film aller Zeiten gekürt wurde.
Letztendlich spiegeln die Namen von Straßen und Plätzen die Geschichte und die Machtverhältnisse in unseren Gesellschaften wider. Die Macht lag und liegt oft in den Händen von Männern – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft und in der Kunst –, während Frauen lange Zeit in untergeordnete Rollen gedrängt wurden. Die wenigen, die es geschafft haben, sich durchzusetzen, hatten es schwer, die öffentliche Anerkennung zu erhalten, die den Männern eher zuteilwurde – selbst in den Straßennamen und bei Denkmälern unserer Städte.
Im Allgemeinen wurden viele Frauen in den Top 100 der weiblichen Persönlichkeiten in der jüngeren Zeit geboren, ein Zeichen dafür, dass die Emanzipation der letzten Jahrzehnte dazu geführt hat, dass mehr von ihnen ihre Leistungen anerkannt sehen. Während bei den Männern nur Papst Johannes Paul II. nach 2000 verstorben ist, sind es bei den Frauen fünf: Maria José von Belgien (Gemahlin des letzten Königs von Italien, Umberto II.), Anna Politkowskaja, Miriam Makeba, Chantal Akerman und Simone Veil. Nach keiner von ihnen wurden jedoch in mehr als drei Städten Straßen benannt.
Wer ist der Jüngste?
Die ‚jüngste‘ Person in der Gesamtwertung ist der sowjetische Astronaut Juri Gagarin, der 1934 geboren wurde und in sechs Hauptstädten geehrt wird. Die Person, deren Tod am nächsten liegt, ist jedoch Papst Johannes Paul II.: Er starb 2005, aber sein Name erscheint bereits in einem Drittel der berücksichtigten Hauptstädte.
Über- und unterrepräsentierte Länder
Apropos Macht und Privilegien: Die Rangliste der beliebtesten Persönlichkeiten in den Straßennamen der europäischen Hauptstädte besteht fast ausschließlich aus Menschen weißer ethnischer Herkunft. Abgesehen von christlichen religiösen Persönlichkeiten aus den nahöstlichen oder nordafrikanischen Regionen Anatolien, Palästina und Ägypten findet man auf der Liste nur fünf Personen nicht-europäischer Abstammung. Vier von ihnen haben jedoch mehr oder weniger entfernte europäische Wurzeln – George Washington, Thomas Edison, John F. Kennedy und Simón Bolívar. Die einzige Persönlichkeit mit einem wirklich anderen Hintergrund ist Mohandas Gandhi.
Was die in Europa Geborenen betrifft, so kamen 41 der 100 populärsten Persönlichkeiten in Orten zur Welt, die heute zu den drei bevölkerungsreichsten Staaten der Europäischen Union gehören: Italien (15), Frankreich (14) und Deutschland (12). Jeweils fünf Personen wurden innerhalb der heutigen Grenzen von Schweden, Russland und Polen geboren.
Gemessen an ihrer Bedeutung in der europäischen Geschichte und ihrer heutigen Bevölkerungszahl scheinen Länder wie das Vereinigte Königreich und Spanien unterrepräsentiert zu sein – allerdings werden sie vielleicht durch die Auswahl der von der Analyse erfassten Städte benachteiligt. Andererseits fällt die Zahl der Menschen nordischer Herkunft auf: einschließlich der fünf Schweden sind es acht, und viele von ihnen erreichen hohe Positionen.
Nach mehr als 23.000 Personen wurde in mindestens einer der 15 untersuchten Hauptstädte wenigstens eine Straße oder einen Platz benannt. Fast 95 % von ihnen kommen in nur einer Stadt vor: Nur wenige Personen haben in zwei oder mehr verschiedenen Ländern Berühmtheit erlangt – insgesamt 1205. Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg der nordischen Persönlichkeiten noch bemerkenswerter.
Die fehlenden Persönlichkeiten
Wo sind Pablo Picasso, Vincent Van Gogh und Rosa Parks? In unserer Rangliste fehlt eine Reihe von international bekannten Persönlichkeiten oder ist auf sehr niedrigen Positionen zu finden. Dies gilt für einige Figuren in den Top 10 der „Liste der denkwürdigen Personen“ von Pantheon.world , wie Isaac Newton, Leonardo Da Vinci, Aristoteles oder Alexander der Große.
In unserer Rangliste rangiert Jesus von Nazareth sehr weit unten (auf Platz 96, mit 6 Straßen in nur 5 Hauptstädten), im Gegensatz zu der auffälligen Anzahl christlicher Heiliger, die in mehreren Städten geehrt werden. Laut Fernando Bermejo-Rubio, Wissenschaftler und Autor des Buches Die Erfindung des Jesus von Nazareth, ist dieses Missverhältnis darauf zurückzuführen, dass „sich die menschliche Verehrung in der Regel nicht der höchsten Gottheit zuwendet, sondern näheren Figuren wie den Heiligen und der Jungfrau Maria, die als zugänglichere Vermittler zwischen Gott und den Menschen gelten“.
Bermejo-Rubio fügt hinzu, dass „die Vielzahl dieser Vermittlerfiguren darauf schließen lässt, dass sie über eine größere lokale ‚Präsenz‘ und Bedeutung verfügen könnten, wie die vielen Heiligen oder Jungfrauen, die mit verschiedenen Ländern, Regionen, Städten oder Dörfern verbunden sind, beweisen. Es gibt auch viele Berichte über die Erscheinungen der Jungfrau Maria, während dies für Jesus nicht zutrifft“.
Den Datensatz mit der Methodik und allen Einzelheiten zur gesamten Top-100-Liste, der Top-100-Liste der Frauen und der Top-100-Liste der Männer finden Sie hier .