Staatsschulden – Europa beängstigt nicht
Nach der Subprime-Krise geriet Europe in erhebliche Turbulenzen, da die internationalen Anleger meinten, einiger Länder des Euroraums könnten ihre Schulden nicht zurückzahlen. Wie sieht die Lage heute aus?
Staatsschulden – Europa beängstigt nicht
Nach der Subprime-Krise geriet Europe in erhebliche Turbulenzen, da die internationalen Anleger meinten, einiger Länder des Euroraums könnten ihre Schulden nicht zurückzahlen. Wie sieht die Lage heute aus?
Die europäische Wirtschaftsdynamik hat sich erholt, aber einige Länder sind immer noch hoch verschuldet und die Konjunktur dürfte sich bereits abkühlen. Steht eine neue Staatsschuldenkrise vor der Tür?
1. Wie haben sich die öffentlichen Schulden entwickelt?
Um die Dynamik der europäischen Länder richtig zu verstehen, müssen wir einen Blick bis zurück in die Nachkriegszeit werfen. So sehen wir, dass die Staatsschulden seit den 1970ern beinahe ununterbrochen zunehmen, nur Italiens Schuldenberg wächst aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten bereits seit den 1960ern. Der französische Ökonom Bruno Tinel, der an der Universität Paris I forscht, beobachtet diese Entwicklung auch in anderen Industriestaaten außerhalb Europas und nennt sie „stilisierte Tatsache des neoliberalen Zeitalters“
Das neoliberale Zeitalter zeichnet sich vor allem durch den starken Anstieg der Zinsen ab dem Ende der 1970er aus. Der entschlossene Kampf gegen die Inflation trieb die Finanzierungskosten bis Mitte der 1990er deutlich in die Höhe. Aus diesem Grund stieg der Schuldendienst unaufhörlich und führten zu einem Schneeballeffekt: Ein immer größerer Teil der neuen Anleihen diente dazu, die alten Schulden zu tilgen.
Den Anfang der 1980er eingeführten Steuererleichterungen folgten Anfang des neuen Jahrtausends weitere Kürzungen. Der Steuersatz für die höchsten Einkommen, die Unternehmensgewinne und (je nach Land auch) die Kapitalerträge sank stetig. Geringere Steuereinnahmen erhöhen die Defizite und die Schulden, außer es werden strenge Sparmaßnahmen getroffen, die wiederum das Wachstum bedrohen.
Die soziale Ungleichheit wuchs. Wohlhabendere Menschen verdienten immer mehr. Diese Schicht neigt jedoch auch dazu, eher zu sparen als zu konsumieren. Infolge des Finanzkapitalismus verwandelten sich die Gewinne eher in Dividenden als in Investitionen. Diese Elemente belasteten das Wachstum und erhöhten das Verhältnis der Schulden zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Schließlich litten die europäischen Staaten unter der Subprime-Krise, die zum Teil durch die liberale Finanzpolitik und die Immobilienblase begründet war.
Angesichts der sehr straffen Geldpolitik, der Steuerkürzungen, der Finanzialisierung der Wirtschaft, des Anstiegs der Ungleichheit und der Deregulierung der Finanzmärkte gingen die die öffentlichen Schulden in Europa auf Höhenflug.
2. Wer hält die Anleihen?
Wer sind die Anleger, die den europäischen Ländern Vertrauen schenken? Mit der Einführung der quantitativen Lockerung, d.h. dem Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbanken des Euroraums im Namen der Europäischen Zentralbank (EZB) hat sich die Lage geändert. Der Anteil der inländischen Investoren ist deutlich gewachsen. Heute halten die Zentralbanken etwa 20% der Staatsschulden. Deshalb hat der Anteil der ausländischen Anleger abgenommen.
Ab Januar 2019 kauft die EZB keine zusätzlichen Schuldtitel mehr. Wirkt sich dieser Beschluss auf die Fähigkeit aus, die öffentlichen Schulden zu finanzieren? Normalerweise nicht, und zwar aus zwei Gründen: Erstens investiert die Zentralbank weiterhin die Erlöse aus den Anleihen, die fällig werden, in neue Wertpapiere. Zweitens schrumpft der Markt der deutschen Bundesanleihen, der als sicherer Hafen in Europa gilt. Das Land erzielt heute Haushaltsüberschüsse, mit denen es alte Schulden tilgt, ohne neue aufzunehmen. Die Anleger dürften sich also eher den Anleihen anderer Länder zuwenden.
3. Wozu diente das Geld?
Auch straff verwaltete und finanzierte Schulden können beunruhigen, sofern die Mittel falsch eingesetzt werden. Das ist aber nicht bzw. nicht mehr der Fall in Europa. Ein einfacher Indikator beweist es. Es genügt, das Haushaltsdefizit ohne öffentliche Investitionen zu berechnen. Wenn das Defizit auf seinem Niveau verharrt oder sich gar erhöht, dann ist es auf zu hohe Betriebsausgaben und einen zu hohen Schuldendienst zurückzuführen. Wenn diese Situation anhält, ist das kein gutes Omen.
Wie sieht es also aus? Seit Anfang der 2000er verzeichnete der Haushalt des Euroraums ohne öffentliche Investitionen einen Überschuss von rund 4% des BIP. Die Staatsschuld hat also die Investitionen komplett finanziert und dazu noch einen Überschuss für andere Behörden erzielt. Nur in den Jahren, in denen sich der Konjunkturhimmel stark eintrübte (Subprime- und Eurokrise), belasteten Länder wie Spanien und Portugal stark bis sehr stark. In dieser Analyse berücksichtigen wir die außergewöhnliche Lage Griechenlands nicht. Heute stehen jedoch beinahe alle oder fast alle Länder (Spanien, Italien) strukturell wieder fest auf beiden Beinen. Was aber nichts über ihre Zukunft aussagt.
4. Sind die Kosten besorgniserregend?
Wir haben uns daran gewöhnt, die Staatsschulden in Prozent des BIP zu messen. Dieses allgemein anerkannte Verfahren erleichtert den internationalen Vergleich. Ökonomisch gesehen macht es jedoch keinen Sinn. denn man setzt Schulden, d.h. einen angehäuften Bestand, zu einem Fluss, d.h. der Wohlstandsproduktion in einem Jahr, ins Verhältnis Ferner gibt kein im Voraus bestimmtes Schulden-BIP-Verhältnis, mit dem man bestimmen kann, ob die Schulden haltbar sind oder nicht.
Es wäre interessanter, sich für die Kosten der Schulden zu interessieren. Die jedes Jahr gezahlten Zinsen in Prozent des BIP stellen einen Fluss einem anderen Fluss gegenüber. Ein schneller Anstieg des Prozentsatzes deutet auf ein Problem. Aus diesem Blickwinkel sinken die Kosten der öffentlichen Schulden in Europa auf lange Sicht deutlich.
Als die Zentralbanken eine straffe Geldpolitik einführten, um die hohe Inflation zu bekämpfen, stiegen die Zinsen steil. Vor diesem Hintergrund verteuerten sich auch die öffentlichen Schulden, die Mitte der 1990er in manchen Ländern auf 5% des BIP kletterten. In Italien erreichten sie sogar 10%. Seitdem werden die Schulden wieder günstiger.
Die Schaffung einer gemeinsamen Währung verlieh den Anlegern wieder Vertrauen. Sie finanzierten lange Jahre die öffentlichen Schulden Europas. Zuweilen auch, ohne sich darum zu kümmern, ob Staaten wie Griechenland ihre Schulden überhaupt zurückzahlen können. Später stiegen die weltweit verfügbaren Ersparnisse über das Niveau hinaus, das Unternehmen und Staaten investieren wollten, wodurch die Zinsen wieder sanken.
Infolge der Finanzkrise und der Eurokrise trug die Geldpolitik der Zentralbanken dazu bei, dass die Zinsen auf ihrem niedrigen Niveau verharrten. Aufgrund der überschüssigen Spargelder war die Tendenz allerdings schon vor der Intervention der Zentralbanken sinkend. Die quantitative Lockerung wird allmählich gedrosselt. Die EZB will eine gewisse Zeit lang – bislang wurde noch kein Enddatum angekündigt – die Erlöse aus den fälligen Anleihen reinvestieren. Zudem soll der Leitzins erst im Sommer 2019 langsam angehoben werden. Schließlich dürfte der Rückgang der deutschen Schulden, wie wir bereits gesehen haben, die Anleger dazu anregen, europäische Anleihen zu kaufen, was die Kosten ebenfalls auf einem niedrigen Niveau sollte. Diese Entwicklung können alle Länder derzeit durch ihre Politik infrage stellen. Der von der neuen Mehrheit in Italien angekündigte Haushaltsentwurf beweist, wie schnell Anleger nervös werden.
5. Also kein Problem?
Gibt es also keine Probleme im Bereich der europäischen Staatsschulden, die uns besorgen sollten? Doch, es gibt drei.
Obwohl der aktuelle Schuldenstand für beinahe alle Länder haltbar und nicht zu teuer wirkt, würde eine neue schwere Krise – etwas Spannungen im Euroraum aufgrund der italienischen Haushaltsprobleme, ein harter Brexit, der Konkurs der schwächelnden Deutsche Bank usw. – die Schulden auf ein weniger kontrollierbares und riskanteres Niveau anheben. Abgesehen vom schwach verschuldeten Deutschland müssen die übrigen europäischen Staaten ihr steigendes Haushaltsdefizit und ihren wachsenden Schuldenberg besser in den Griff bekommen, um bei der nächsten Krise über den erforderlichen Spielraum zu verfügen.
Der strukturell bedingte Anstieg der Schulden beruht auf der Anti-Steuer-Ideologie der Regierungen aller politischen Farben. In Frankreich wählte Präsident Macron auch diesen Kurs. Er will die Schulden abbauen, senkt aber die Steuern und verbaut sich damit selbst den Weg. Die europäische Kommission scheint ebenfalls zu denken, Steuererleichterungen seien günstig. Dennoch fordert sie die Eindämmung der Haushaltsdefizite.
Wenn wir uns schon um Schulden Sorgen machen, sollten wir auch die Unternehmen unter die Lupe nehmen. In dieser Hinsicht ist die Lage in den europäischen Ländern sehr kontrastreich. Die portugiesischen und spanischen Unternehmen bekommen ihre Schulden immer besser in den Griff. Die deutsche Wirtschaft ist kaum verschuldet, weil sie wohl nicht genügend investiert, was sich auf lange Sicht ungünstig auswirken wird. In Italien verhindern die maroden Banken die effiziente Finanzierung der Wirtschaft.
Frankreich tanzt aus der Reihe. Die Unternehmen sind viel höher verschuldet als der Staat und bauen die Schuldenberge schnell auf. Obwohl ein Teil dieser Mittel die Liquiditätslage gestärkt haben, scheinen die französischen Konzerne ein gefährliches Spiel zu spielen. Die Nettoschulden (Schulden abzüglich der liquiden Mittel) steigt tendenziell schneller als der Mehrwert, d.h. die Wertschöpfung aus der Produktion. Dies deutet auf ein zunehmendes Missverhältnis zwischen den Finanzaktivitäten und der Realwirtschaft.
Wenn wir also von Schulden sprechen, dürfen wir das Niveau und die Dynamik der privaten Schulden nicht vergessen. Auch sie können die Probleme der europäischen Volkswirtschaften widerspiegeln.