Gewalt gegen Frauen – wie veraltete Rollenbilder eine Lösung behindern

In Europa behindern sexistische Stereotypen die Verbreitung wirksamer Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Im Jahr 2018 lehnten Bulgarien und die Slowakei die Ratifizierung des Istanbuler Übereinkommens ab. Aber selbst dort, wo die Ratifizierung stattgefunden hat, erfolgt die Umsetzung oft sehr langsam.

Published On: Dezember 7th, 2018
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Gewalt gegen Frauen – wie veraltete Rollenbilder eine Lösung behindern

In Europa behindern sexistische Stereotypen die Verbreitung wirksamer Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Im Jahr 2018 lehnten Bulgarien und die Slowakei die Ratifizierung des Istanbuler Übereinkommens ab. Aber selbst dort, wo die Ratifizierung stattgefunden hat, erfolgt die Umsetzung oft sehr langsam.

Foto: © nito/Shutterstock

In Litauen können viele Frauen, die Opfer männlicher Gewalt wurden, sich nirgends in Sicherheit bringen. Das gilt auch für Frauen, die Missbrauch innerhalb der Familie ausgesetzt sind. In diesem Land gibt es keine Unterkünfte für weibliche Gewaltopfer und ihre Kinder. Das bedeutet: Die vom Istanbuler Übereinkommen festgelegte Bettenzahl gibt es in Litauen nicht, obwohl das Land 2013 das Übereinkommen unterzeichnet, aber nie ratifiziert hat.

In den Ländern der Europäischen Union ist Litauen das einzige Land, in dem eine grundlegende Hilfeleistung zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt vollkommen fehlt: die Verfügbarkeit geschützter und frei zugänglicher Einrichtungen, in denen eine Frau, der Gewalt zugefügt wurde, Unterschlupf, Schutz und Unterstützung finden kann, um aus dem Opferdasein herauszukommen. Viele weitere Länder weisen erhebliche Defizite auf: In Polen fehlen zum Beispiel 99 Prozent der erwarteten Betten, in der Tschechischen Republik 91 Prozent, in Bulgarien 90 Prozent und in Italien 89 Prozent.

Derzeit gibt es erhebliche Angriffe und organisierte Widerstände gegen Maßnahmen zur Gleichstellung und Antidiskriminierung einschließlich der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Das gilt zum Beispiel für die mittlerweile bekannte “Agenda Europe” und den transnationalen Plan zur Wiederherstellung einer konservativen und religiösen Sichtweise der Gesellschaft und zur Bekämpfung der Antidiskriminierungspolitik einschließlich der so gefürchteten „Gender-Ideologie“.

Die Situation in Osteuropa

Die Bezeichnung „Gender“ ist auch in vielen osteuropäischen Ländern umstritten, in denen über die Ratifizierung oder Nichtratifizierung des Istanbuler Übereinkommens diskutiert wird. Wegen dieser Bezeichnung wurde die Ratifizierung in der Slowakei abgelehnt, in Bulgarien wurde das Überreinkommen sogar für verfassungswidrig erklärt. Auch in Litauen wird die Ratifizierung durch die Ablehnung von Artikel 3 Buchstabe c) des Übereinkommens blockiert. Darin wird der Begriff „Gender“ als eine Reihe von Regeln, Verhaltensweisen, Aktivitäten und Attributen beschrieben, die in einer Gesellschaft sowohl für Männer wie auch für Frauen als akzeptabel betrachtet werden. Dies ist ein Abschnitt des Übereinkommens, der von wesentlicher Bedeutung ist und zeigt, dass die Grundlage der Gewalt oft das in der Gesellschaft fest verankerte Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen bildet – hinsichtlich Macht, Machtverhältnissen und Unterwerfung. Mit anderen Worten: um darauf hinzuweisen, dass geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen als solche ausgeübt wird (Artikel 3 Buchstabe d)).

Insgesamt haben 33 Länder das Istanbuler Übereinkommen ratifiziert, wobei Kroatien, Griechenland, Island, Luxemburg und Mazedonien 2018 beigetreten sind. Aber obwohl die Ratifizierungen von vielen osteuropäischen Ländern unterzeichnet wurden, gab es in diesen Gebieten der Union viel Gegenwind. In mehreren Ländern wurden Kampagnen gegen das Übereinkommen organisiert: In Kroatien gab es Demonstrationen auf den Straßen, in Bulgarien und der Slowakei wurde die Ratifizierung abgelehnt und Litauen kommt in den parlamentarischen Debatten nicht weiter.

Wie 2016 aus einer Umfrage über geschlechtsspezifische Gewalt für den Eurobarometer hervorging, fehlt in osteuropäischen Ländern das Verständnis für Hilfsmaßnahmen für weibliche Gewaltopfer. Bezogen auf Europa zeigt die Umfrage unter anderem, dass jeder fünfte Befragte dazu neigt, den Opfern die Schuld für die erfahrene Gewalt zu geben. Das gilt selbst vor Gericht mit Aussagen, wie „Sie ist selbst schuld“. Viele vertreten den Standpunkt, dass männliche Gewalt oft übertrieben oder sogar erfunden ist. Aus dieser Umfrage geht heraus, dass dies ein sehr verbreiteter Standpunkt in Osteuropa ist, der auch dazu führt, dass Anzeigen von Gewaltübergriffen mit einer gewissen Zurückhaltung erfolgen. In Osteuropa neigen die Menschen generell dazu, häusliche Gewalt als private Angelegenheit zu betrachten, die innerhalb der Familie gelöst werden sollte; diese Meinung vertraten 34 Prozent der befragten Bulgaren und 32 Prozent der Rumänen.

Und auch in einer kürzlich in der Tschechischen Republik durchgeführten Umfrage glauben 58 Prozent der Befragten, dass Vergewaltigung in mancher Weise durch das Verhalten des Opfers gerechtfertigt sein kann. Zum Beispiel, wenn Frauen nachts allein durch die Straßen gehen oder sich nicht angemessen kleiden. Eine Denkweise, die dazu führt, dass Gewaltverbrechen nicht angezeigt werden. Schätzungen zufolge werden in der Tschechischen Republik nur 5 bis 8 Prozent der Gewaltverbrechen bei der Polizei angezeigt; noch weniger Fälle landen tatsächlich vor Gericht.

Das Ausmaß des Problems

Das wahre Ausmaß des Problems ist noch gar nicht bekannt. Die offiziellen Statistiken über weibliche Opfer von Gewalt sind noch sehr Lückenhaft. Wenn man sich ansieht, welche Fälle vor Gericht kommen, stößt man auf einen Mangel an Informationen, der viele Aspekte umfasst: von der gravierend unheitlichen Datenerhebung – etwa hinsichtlich der Anzahl der Gewalttaten oder sogar Morde an Frauen – bis hin zum Fehlen vollständiger Statistiken über Berichte, Klagen und tatsächliche Verurteilungen. Die Vielfalt der verfügbaren Daten deutet darauf hin, dass es in den verschiedenen Ländern sowohl Unterschiede in den Erhebungs- und Verarbeitungsmethoden gibt, als auch deutliche Unterschiede zum Verständnis von Gewalt an sich.

Generell ist in Europa das Vertrauen der weiblichen Opfer gegenüber den Institutionen nicht sehr hoch, wenn man bedenkt, dass sich nur eine von drei Frauen (33 Prozent), die Opfer schwerer Gewalt durch den eigenen Partner geworden sind, an die Polizei oder an spezielle Einrichtungen wendet. Ein Prozentsatz, der sogar auf 26 Prozent sinkt, wenn der Angreifer nicht der eigene Partner ist.

Selbst in Ländern, in denen die Emanzipation der Frau allgemein als fortschrittlicher angesehen wird, ist die Gewalt keineswegs verschwunden. Oftmals wechselt nur die Art oder Situation, in der sie sich zeigt. Ein 2007 veröffentlichter europäischer Bericht über geschlechtsspezifische Gewalt und wirtschaftliche Unabhängigkeit zeigt eine sehr komplexe Lage, wenn es um die Emanzipation der Frau und Gewalt geht. Haben Frauen einen Job, ist die häusliche Gewalt leicht rückläufig, aber nur, wenn keine Kinder beteiligt sind. Frauen mit fortgeschrittenem Bildungsniveau sind auf der einen Seite etwas besser vor sexueller Gewalt und Gewalt durch den eigenen Partner geschützt, dafür aber stärker sexueller Belästigung ausgesetzt. Aber auch das Niveau der wirtschaftlichen Unabhängigkeit zählt: Wenn Frauen mehr verdienen als ihr Partner, nimmt die Gewalt seitens des Partners deutlich zu; wenn Frauen hingegen weniger verdienen, sind sie stärker einen psychischen Missbrauch ausgesetzt.

Es bleibt also noch viel zu tun. Nicht nur, um die Unterzeichnung und Ratifizierung des Istanbuler Übereinkommens zu unterstützen, sondern auch, um die wirksame Umsetzung seines Inhalts zu gewährleisten. Es ist kein Zufall, dass das Übereinkommen selbst eine nachträgliche Überwachung und Bewertung vorsieht, die in diesem Jahr in Italien durchgeführt wurde. In dem kürzlich vom Verein „Dire“ veröffentlichten Bericht lesen wir von zahlreichen Hindernissen, denen gewaltanzeigende Frauen sowohl bei der Polizei als auch im Gesundheitswesen ausgesetzt sind. Darin heißt es „aufgrund schlechter Vorbereitung und Ausbildung des Personals im Falle von Gewalt, vor allem aber wegen des kulturellen Nährboden Italiens, das von tiefen sexistischen Stereotypen und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und von Vorurteilen gegenüber Frauen gekennzeichnet ist, sodass man immer noch dazu neigt, ihnen nicht zu glauben“.

Der Bericht bezeichnet die bereitgestellten Gelder zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen als lächerlich: Nach den Daten, die der italienische Rechnungshof in den Anti-Gewalt-Zentren und in den Unterkünften ermittelt hat, stehen etwa 6.000 € pro Jahr zur Verfügung. Dies reicht natürlich nicht annähernd, um den Opfern einen Schutzstandard zu garantieren, und noch weniger, um Präventions- und Gegenmaßnahmen in einem breiteren Umfang zu planen. Der Bericht weist auch auf einen stetigen Rückgang der Ressourcen im Laufe der Jahre und auf eine ungleichmäßige Verteilung hin, da fast nur das nördliche Zentrum Italiens Einrichtungen für Frauen vorweisen kann, während sich ein gravierender Mangel im Süden und auf den Inseln Italiens zeigt.

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