Gewalt gegen Frauen in Europa

Haben Femizide während der Pandemie drastisch zugenommen? Dieser Frage sind 18 Redaktionen aus ganz Europa nachgegangen. Gemeinsam haben sie aktuelle Daten aus 22 EU-Ländern gesammelt, um eine bisher einzigartige grenzüberschreitende Studie zu dem Thema zu veröffentlichen.

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Illustration: Una Rebić/Pod črto

Mit jedem neuen Mal kommt alles wieder hoch. Es ist schrecklich. Ich denke immer: ‚Diese arme Mutter, dieser arme Vater, was die jetzt gerade durchmachen. „Für Katerina Koti, die Mutter der 31-jährigen Dora Zacharia, die im September 2021 in Rhodos von ihrem Ex-Freund wenige Tage nach ihrer Trennung ermordet wurde, ist jede neue Meldung über den Mord an einer Frau eine weitere Tragödie. Ihre Tochter Dora war das 11. Opfer in diesem Jahr und es sollten noch viel mehr werden… 

Letzten Sommer verloren drei Frauen in weniger als 48 Stunden in Griechenland ihr Leben. Sie alle wurden von ihren Partnern getötet. Am 31. Juli 2022 erstach ein Mann seine Frau in Rethymno, als sie ihn um die Scheidung bat. Am Tag darauf schlug ein Mann in Zakynthos seine Frau brutal zusammen und tötete sie anschließend mit einem Messer. Wenige Stunden vor ihrer Ermordung war die Frau bei der Polizei, um erneut Anzeige gegen ihn zu erstatten, nachdem er sie wieder einmal verprügelt hatte. Nur wenige Stunden später wurde dann ein 17-jähriges Mädchen in Peristeri das jüngste weibliche Mordopfer des Landes. 

Morde an Frauen durch ihre aktuellen oder ehemaligen Partner sind in Griechenland seit langem stark verbreitet und haben während der Corona-Pandemie offenbar ihren Höhepunkt erreicht. Und dieses Phänomen betrifft nicht nur Griechenland: In Spanien gab es Anfang des Jahres allein an einem Tag vier Morde an Frauen in verschiedenen Städten. Ähnlich düstere Berichte gibt es auch aus anderen europäischen Ländern. Sie heizen die Debatte darüber an, ob Frauenmorde als eigenständiges Verbrechen anerkannt werden sollten. Bislang haben nur zwei europäische Staaten, Zypern und Malta , diesen Schritt gewagt. 

Doch wie sieht die Lage derzeit aus? Hat die Zahl der Frauen, die von ihren Partnern oder Verwandten ermordet werden, in den letzten Jahren wirklich so drastisch zugenommen? Steht diese Entwicklung in Zusammenhang mit einer allgemeinen Zunahme der geschlechtsspezifischen Gewalt, insbesondere der häuslichen Gewalt während der Covid-19-Pandemie? Ist die Zahl der Femizide in Europa tatsächlich gestiegen? Und welche Länder haben die größten Schwierigkeiten, Gewalt gegen Frauen einzudämmen?

Die grenzüberschreitende Datenanalyse von MIIR-EDJNet 

Die Antworten auf diese Fragen sind schwer zu finden, da auf EU-Ebene keine offiziellen Daten für die Zeit nach 2018 veröffentlicht wurden. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) , das für die Durchführung von Forschungsarbeiten und die Überwachung politischer Maßnahmen im Bereich Gewalt gegen Frauen zuständig ist, hat 2020 eine Datenerhebung begonnen, deren Ergebnisse jedoch nicht vor 2024 veröffentlicht werden sollen. Das bedeutet, dass die EU bis dahin kein genaues Bild darüber haben wird, wie viele Frauen in Europa Opfer von Gewalt und Mord werden, obwohl Frauen die Hälfte der europäischen Bevölkerung ausmachen! 

Um dem entgegenzuwirken, hat das MIIR zusammen mit 17 europäischen Medien im Rahmen des EDJNet versucht, eine aktuelle Studie zum Thema Gewalt gegen Frauen in Europa zu erstellen. Durch die von den nationalen Behörden für den Zeitraum zwischen 2010-2021 zur Verfügung gestellten Daten konnte das MIIR eine neue Datenbank erstellen, die wichtige Erkenntnisse über geschlechtsspezifische Gewalt in der EU liefert. Unter Mitwirkung des iMEdD Lab wurden die Daten analysiert, wobei der Schwerpunkt auf den Jahren während der Covid-19-Pandemie liegt.  

Quellen und Methodik

Die Studie stützt sich auf zwei primäre Datenquellen. Die erste sind die EIGE-Indikatoren für die Erfassung von Gewalt in Paarbeziehungen gegen Frauen und Femizid durch männliche Täter, wie sie im Gleichstellungsbericht 2021 enthalten sind, der Daten bis zum Jahr 2018 enthält. Das EIGE definiert „Gewalt in der Partnerschaft“ als jede Form von körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die zwischen ehemaligen oder derzeitigen Ehepartnern oder Lebensgefährten ausgeübt wird, unabhängig davon, ob sie im selben Haus leben. Die an der Untersuchung beteiligten Teams bemühten sich um möglichst aktuelle Daten, die auf Grundlage der Leitlinien des EIGE geprüft wurden. 

In Bezug auf „Femizid“ ist es erwähnenswert, dass das EIGE die statistische Definition der „Tötung einer Frau durch einen Intimpartner und den Tod einer Frau infolge einer für Frauen schädlichen Praktik“ übernimmt und Verbrechen im Zusammenhang mit diesen Merkmalen dem „Indikator 9“ zuordnet, der den Tod von Femizidopfern ab 18 Jahren erfasst. In Griechenland gibt es kein spezifisches Gesetz für die strafrechtliche Verfolgung von Femizid, und so wird das Phänomen in dem Land durch die Erhebung von Daten über die weiblichen Opfer von vorsätzlicher Tötung überwacht, während die Beziehung zum Täter in Verbindung mit dem Gesetz für den Umgang mit häuslicher Gewalt erstellt wird.

Als zweite Quelle und Instrument zur informellen „Überprüfung“ der Ergebnisse wurden Eurostat-Datenbanken herangezogen, die bis zum Jahr 2020 Daten zu vorsätzlichen Tötungsdelikten, Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, bei denen der Täter ein Partner oder ein Familienmitglied ist, sowie Informationen zu den strafrechtlichen Sanktionen gegen die Täter liefern. Im Falle Griechenlands wurden die Daten vom Generalsekretariat für Geschlechtergleichstellung erhoben, das seinerseits Daten von der griechischen Polizei und dem Justizministerium sammelte. Zusammen mit Slowenien gehörte Griechenland zu den Ländern, die in den meisten Kategorien Daten zur Verfügung stellten.  

Datenloch zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt in der EU

Nach Hinzurechnung der neuer Daten wird auf der Grundlage der ehemaligen Statistiken die Gesamtzahl der Femizide von 2010 bis 2021 in den 20 EU-Ländern, die ihre Daten dazu zur Verfügung gestellt haben, auf 3232 geschätzt. Für acht EU-Mitgliedstaaten (Polen, Bulgarien, Dänemark, Luxemburg, Belgien, Portugal, Irland, Rumänien) sind jedoch keine Daten verfügbar. Die oben genannte Zahl lässt vermuten, dass die Polizeibehörden viel zu wenig Fälle erfassen. Denn im Vergleich dazu gab es laut Eurostat-Daten 6593 vorsätzliche Tötungen von Frauen in Europa zwischen 2011 und 2021, darunter 4208 durch Partner und 2385 durch Verwandte. Diese Zahlen betreffen Österreich, Kroatien, Zypern, die Tschechische Republik, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Italien, Lettland, Litauen, Malta, die Niederlande, Serbien, die Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, also insgesamt 20 EU-Länder. 

Sowohl für die Forschung als auch für die politische Entscheidungsfindung ist der Mangel an aktuellen Daten ein großes Problem. Die EDJNet-Mitglieder haben festgestellt, dass die Veröffentlichung aktueller Daten durch staatliche Organisationen äußerst lückenhaft ist. Hinzu kommt das Fehlen von Daten mit ähnlichen und somit vergleichbaren Merkmalen. „Aufgrund des Mangels an vergleichbaren EU-weiten Daten erhält die EU im Bereich der Gewalt keine Punktzahl“, so das EIGE . Trotz dieser Hürden liefern die nun in die MIIR-Primärdatenbank aufgenommenen Daten wichtige Erkenntnisse über die jüngste Entwicklung der geschlechtsspezifischen Gewalt in Europa.

Explosion von Femiziden in Griechenland

Um pertinente Ergebnisse zu erhalten, haben wir uns aufgrund der unvollständigen Daten und der von Land zu Land unterschiedlichen Methoden zur Erfassung von Femiziden dafür entschieden, auf der Grundlage des EIGE-Index nicht die absoluten Zahlen zu vergleichen, sondern die prozentuale Entwicklung der Femizide in den Ländern, für die Daten vorliegen. Darüber hinaus wurden die Daten pro 100.000 Frauen in den jeweiligen Ländern berechnet.

Den höchsten Anstieg der Femizide im Jahr 2021 verzeichnete Griechenland mit 23 Fällen im Vergleich zu 8 im Jahr 2020 (+ 187,5 %). Schweden verzeichnet ebenfalls einen sprunghaften Anstieg mit + 120 % im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr, während Estland und Slowenien einen Anstieg um 100 % im Jahr 2015 bzw. 2020 verzeichneten. Vergleicht man die Daten für den zweijährigen Pandemiezeitraum mit dem Jahr 2019, so zeigt sich, dass Griechenland, Slowenien, Deutschland und Italien einen deutlichen Anstieg von Femiziden verzeichnen.

Für ihre Studie sammelten die Redaktionen auch Daten aus inoffiziellen Quellen, z. B. von lokalen Überwachungsgruppen für die Erfassung von Femiziden. Solche Organisationen überwachen meist die Medienberichterstattung mit dem Ziel, der Unterberichterstattung über Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken. Diese Methode wurde gewählt, um die offizielle Zahl der Femizide mit der inoffiziellen vergleichen zu können.

„Wir können nicht alle Femizide zählen und erfassen, aber wir weisen darauf hin, wie dringend notwendig es ist, diese Daten offenzulegen. Das Problem der Gewalt gegen Frauen während der Pandemie ist sehr komplex und kein vorübergehendes Phänomen. Anhand der uns vorliegenden Daten für die Jahre 2019 bis 2022 konnten wir feststellen, dass die Gewalt anhält“, sagt Athena Pegglidou, Gründerin des griechischen Büros der Europäischen Beobachtungsstelle für Femizide . In den Jahren 2020 und 2021 war die inoffizielle Zahl der von der Beobachtungsstelle erfassten Femizide in Griechenland höher als die offizielle Zahl, und zwar um das 2,4-fache im Jahr 2020 und das 1,4-fache im Jahr 2021. In Serbien war die inoffizielle Zahl der von der NGO Autonomous Women’s Centre erfassten Femizide fast 1,5 Mal höher als die offizielle Zahl.

Die Auswertung der Eurostat-Daten über vorsätzliche Tötungen von Frauen durch Männer, Partner oder Verwandte bestätigt für Griechenland einen ähnlichen Anstieg von 156 % im Jahr 2021 gegenüber 2020. Die Analyse zeigt außerdem, dass Slowenien im ersten Jahr der Pandemie einen 100%igen Anstieg der Tötungsdelikte an Frauen durch Intimpartner und Verwandte im Vergleich zu 2019 verzeichnete. Es folgen Kroatien, Österreich und Ungarn mit einem Anstieg von jeweils 55,6 %, 28,6 % und 26,1 %.

Cristina Fabre Rosell arbeitet als Teamleiterin für geschlechtsspezifische Gewalt am Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen und erklärt, dass die Zahl der Femizide während des ersten Lockdowns zwar relativ zurückging, das Risiko aber weiter bestand: 

„Frauen waren während der Pandemie weniger von Femiziden bedroht, weil sie mit den vermeintlichen Tätern ständig zusammen waren und diese sich daher sicherer fühlten. Die Männer hatten während dieser Zeit genug Kontrolle über ihre Partnerinnen. Die Gewalt in Paarbeziehungen hat damals zugenommen, aber nicht in Form von Femiziden. Besorgniserregender war für uns die Zeit nach dem Lockdown. Wir wussten nicht, welche Maßnahmen wir ergreifen sollten, um Frauen zu schützen, die vor ihren Tätern geflüchtet waren. Unsere Befürchtung war also, dass Femizide durch Initimpersonen erst nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen zunehmen würden, was auch tatsächlich in einigen Mitgliedstaaten geschehen ist. Aber wir sind immer noch nicht in der Lage, festzustellen, ob es sich um ein allgemeines Phänomen handelt, das in allen EU-Mitgliedstaaten auftritt und ob es einen direkten Zusammenhang mit den Lockerungen gibt. Wir haben dafür keine Beweise. Aber wir hoffen, dass wir anhand der gesammelten Daten über Femizide in Paarbeziehungen im Laufe der Jahre vielleicht solche Beweise erbringen können.”

Zunahme von Gewalt gegen Frauen

Die Aussagen des EIGE-Teamleiters für geschlechtsspezifische Gewalt werden durch die Analyse anderer EIGE-Indikatoren für physische, psychische, wirtschaftliche und sexuelle Gewalt bestätigt. Die folgende Grafik zeigt, wie sich die Zahl der Opfer von verschiedenen Arten von Gewalt in den letzten Jahren entwickelt hat. 

In Griechenland stieg die Zahl der Opfer körperlicher Gewalt im Zeitraum der Pandemie erschreckend stark an: um 110,2 % im Jahr 2020 und um 90,4 % im Jahr 2021. Konkret wurden im Jahr 2020 3609 Opfer körperlicher Gewalt registriert, während die Zahl im Jahr 2021 6873 erreichte. Die Zahl der Opfer sexueller Gewalt stieg dagegen von 69 auf 141.

Parallel dazu führten die steigende Nutzung des Internets und die Zunahme des Online-Missbrauchs zu einem Anstieg der Opfer psychischer Gewalt in Griechenland um 84,1 %, sodass die Zahl der Opfer im Jahr 2020 bei 2906 lag, um im Jahr 2021 einen weiteren Anstieg um 104,6 % auf 5350 Opfer zu verzeichnen. „Ich glaube, dass wir psychische Gewalt jetzt konzeptionell erfassen und dass die Menschen sich bewusster werden, was psychische Gewalt ist und welche enormen Auswirkungen sie hat. Das ist ein Trend, den wir beobachten: Immer mehr Opfer sind sich bewusst, dass dies inakzeptabel ist, dass es sich um ein Vergehen und um Gewalt handelt“, erklärt der Leiter des EIGE-Teams für geschlechtsspezifische Gewalt. 

Nach Angaben des EIGE sind mindestens 44 % der Frauen in Europa schon einmal psychischer Gewalt durch ihren Partner ausgesetzt gewesen. Es scheint jedoch Länder zu geben, denen es gelungen ist, diese Entwicklung zu drosseln, wie Serbien und Deutschland, wo der Anstieg im ersten Jahr der Pandemie auf 3,4 % bzw. 1,5 % begrenzt war.

Weniger Berichte gibt es über wirtschaftliche Gewalt gegen Frauen. Damit ist eine erdrückende finanzielle Kontrolle oder das finanzielle Ausbluten einer Frau durch ihren aktuellen oder ehemaligen Lebenspartner gemeint. Von den zehn Ländern, in denen darüber Daten vorliegen, verzeichneten sechs einen Anstieg und vier einen Rückgang zwischen 2015 bis 2018. Finnland wies mit 33,4 % den höchsten durchschnittlichen Anstieg auf, gefolgt von der Tschechischen Republik mit 26,6 %, Deutschland mit 12,2 %, Österreich mit 8,4 %, Spanien mit 6,0 % und Lettland mit 4,6 %. Belgien verzeichnete dagegen einen durchschnittlichen Rückgang von -0,1%, Malta einen Rückgang von -2,7%, die Slowakei einen Rückgang von -12,1% und Serbien einen Rückgang von -18,1%.

 Was den Indikator für sexuelle Gewalt anbelangt, so verzeichneten Griechenland, Serbien und Slowenien in den Jahren der Pandemie einen erheblichen Anstieg. Insbesondere nahm die sexuelle Gewalt in Griechenland im Jahr 2020 um 115,6 % und im Jahr 2021 um 104,3 % zu. In Serbien stieg sie 2021 um 76 %, nachdem sie 2020 um 52,6 % gesunken war, während sie in Slowenien 2020 um 64,3 % und 2021 um 17,4 % zunahm. Deutschland verzeichnete einen Anstieg von 8,0 % im Jahr 2020, während Ungarn einen Anstieg von 20,8 % im Jahr 2020 verzeichnete, aber eine Entwicklung von – 6,3 % im Jahr 2021. 

Auf der Grundlage der Eurostat-Daten verzeichnen Ungarn und Griechenland mit 41,2 % bzw. 36,5 % den größten Anstieg der gemeldeten Vergewaltigungen von Frauen im Jahr 2020, gefolgt von Rumänien und Slowenien. Insgesamt liegt Schweden mit 135 Vergewaltigungsopfern und 197 Opfern sexueller Nötigung pro 100.000 Frauen zwischen 2015 und 2020 an der Spitze. Dabei ist zu beachten, dass in Schweden die Definition von Vergewaltigung im Jahr 2013 und im Jahr 2018 erweitert wurde, was sich auf diese Statistiken auswirken könnte. Dänemark, Frankreich und Finnland folgen mit 54, 47 bzw. 41 Vergewaltigungsopfern gerechnet auf 100.000 Frauen. Bei den sexuellen Übergriffen weisen Frankreich, Dänemark, Deutschland und Finnland die höchsten Raten auf.

Die Nachlässigkeit der Behörden kostet Leben

Konstantina Tsapa wurde am 5. April 2021 von ihrem Ehemann in dem Dorf Makrinitsa mit einem Messer erstochen. Am gleichen Tag ermordete der Täter im Haus ihrer Eltern ihren Bruder Giorgo Tsapas. Vier Tage zuvor hatte der Mörder die Mutter seines Kindes und deren Eltern in ihrem Haus bereits angegriffen. Er hatte zuvor ähnliche Gewalttaten begangen, aber trotz Aufrufen der Polizei, Klagen und eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung war der Täter nie in Haft gewesen.

„Bei dem Streit vor dem Mord war er in unser Haus gedrungen und hatte mich, meine Frau und meine verstorbene Tochter geschlagen. Dann hat ihn die Polizei mitgenommen und ihn zwei, drei Stunden auf der Wache festgehalten. Aber sie ließen ihn gehen und sagten mir: ‚Wir können ihn nicht länger festhalten'“, berichtet Apostolos Chapas gegenüber MIIR voller Erschütterung. Er hatte mit ansehen müssen, wie seine beiden Kinder vor seinen Augen ermordet wurden.

„Die Polizeikräfte hatten eine viel zu tolerante Haltung gegenüber dem Täter“, sagt Anthoula Anasoglou, Anwältin der Familie des Opfers. „Er war 2021 auch wegen häuslicher Gewalt angezeigt worden, wurde aber nie verhaftet. Während des Prozesses gab ein Beamter sogar zu, dass die Polizei ihn ein paar Tage zuvor mit den Worten ‚Okay, sie sind ein Paar, sie werden schon wieder zusammenkommen‘ entlassen hatte.“

Dora Zacharia wusste 2021 nicht, dass ihr damaliger Partner und späterer Mörder nach einem Vorfall, bei dem er seine frühere Partnerin bedroht hatte, wegen illegaler Gewalt und Tragens einer Waffe strafrechtlich verfolgt worden war. Das Vergehen der rechtswidrigen Gewalttätigkeit war wegen Verjährung eingestellt worden, während er für das Tragen einer Waffe eine zweimonatige Haftstrafe mit dreijähriger Bewährung erhalten hatte. Eine andere Ex-Partnerin, die Opfer körperlicher Gewalt geworden war, hatte ebenfalls Anzeige gegen ihn erstattet, aber die einstweilige Verfügung wurde nicht rechtzeitig verhandelt. „Dora hat für diese Verzögerung mit ihrem Leben bezahlt. Wir haben unser Kind zu Unrecht verloren“, sagte Katerina Koti. 

Die in Griechenland für 2020 erhobenen Daten zeigen, dass von den 4436 Tätern häuslicher Gewalt gegen Frauen 70,6 % (3132) strafrechtlich verfolgt wurden. Von diesen wurden 20,9 % verurteilt, aber nur 13,7 % der Verurteilten wurden inhaftiert. Vergleicht man jedoch die Zahl der Täter mit der Zahl der inhaftierten Männer, so wird geschätzt, dass von 100 erfassten Tätern im Jahr 2020 nur 2 – also 2 % – ins Gefängnis gekommen sind.

Es sei darauf hingewiesen, dass die absoluten Zahlen die Situation im Berichtsjahr möglicherweise nicht vollständig widerspiegeln und dass es Abweichungen bei der Datenerfassung geben kann. So bedeutet beispielsweise die Registrierung eines Straftäters im Jahr 2020 nicht, dass die Straftat auch im Jahr 2020 begangen wurde, und ebenso bedeutet die Inhaftierung eines Straftäters im Jahr 2020 nicht, dass er die Straftat im selben Jahr begangen hat. Aus diesem Grund handelt es sich bei diesen Quoten um eine relative Schätzung und sie sollten als Indikator für einen Trend interpretiert werden.

Im Durchschnitt wurden jährlich nur 3 % der wegen häuslicher Gewalt verfolgten Männer in Griechenland und 5 % in Slowenien inhaftiert. Im Gegensatz dazu lag in Spanien der durchschnittliche Jahresprozentsatz der wegen häuslicher Gewalt verfolgten Männer, die im Gefängnis landeten, bei 30 %.

Die Mutter von Dora Zacharias nimmt inzwischen häufig an Veranstaltungen gegen Femizid teil, so wie viele Mütter ermordeter Frauen. Gemeinsam fordern sie einen angemesseneren Umgang von Staat und Gesellschaft mit Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

In einer historischen Entscheidung hat der Europäische Rat am 22. Februar 2023 nach sechs Jahren Verzögerung aufgrund des ständigen Widerstands verschiedener Mitgliedstaaten beschlossen , dass die EU der Istanbul-Konvention als transnationale Einheit beitreten soll. Dies folgte der Zustimmung des Europäischen Parlaments, das zuvor die Aufnahme von Gewalt gegen Frauen in die Liste der anerkannten Straftaten in der EU gefordert hatte. Das Übereinkommen, das seit 2014 in Kraft ist, ist der erste rechtsverbindliche internationale Text, der Kriterien für die Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt festlegt, und könnte als Leitfaden für Folgeinitiativen in Brüssel dienen.

Am 25. November 2022, dem Internationalen Tag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, hatte die Europäische Kommission das Europäische Parlament aufgefordert, so schnell wie möglich einen Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu verabschieden, der im vergangenen März vorgelegt wurde. Die Richtlinie zielt unter anderem darauf ab, in der EU-Gesetzgebung Mindeststandards für die Kriminalisierung bestimmter Formen von Gewalt gegen Frauen, für den Schutz der Opfer und die Verbesserung des Zugangs zur Justiz, für die Unterstützung der Opfer und die Koordinierung zwischen den einschlägigen Diensten sowie für die Präventionsarbeit zu verankern.

In der Richtlinie wird zudem vorgeschlagen, die Datenerhebung endlich EU-weit verbindlich zu machen. Über das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen wird zu wenig berichtet und wie bereits erwähnt, sind die Daten zwischen den EU-Ländern nicht ohne Weiteres vergleichbar. In der Richtlinie wird erwähnt, dass die letzte einschlägige europaweite Erhebung im Jahr 2014 veröffentlicht wurde.

Die Ergebnisse der von MIIR und EDJNet durchgeführten grenzüberschreitenden Datenerhebung untermauern dies. Insgesamt 18 europäische Journalistenteams haben vier Monate lang nach aktuellen Daten aus mindestens 22 EU-Ländern recherchiert, um heraus zu bekommen, ob es während der Pandemie einen Anstieg von Femiziden und Gewalt gegen Frauen gab. Einigen Teams gelang es, neue und vergleichbare Daten zu beschaffen, anderen nicht.

In jedem Fall ist klar, dass ohne ein gemeinsames europäisches System zur Erfassung von Gewalt gegen Frauen und die Stärkung des Opferschutzsystems, die Durchsetzung der Gesetze und die Überprüfung der Strafen sowie die systematische Aufklärung junger Menschen über Geschlechtsidentität und sexuelle Beziehungen die geschlechtsspezifische Gewalt weiter florieren wird. Es besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass niemand etwas davon erfährt, weil die Vorfälle nicht registriert werden…

An der Studie beteiligte Medien

Diese grenzüberschreitende datengestützte Studie wurde vom Mediterranean Institute for Investigative Journalism (MIIR.gr ) im Rahmen des European Data Journalism Network organisiert und koordiniert. Die Datenanalyse und -visualisierung wurde von iMEdD Lab (Inkubator für Medienbildung und -entwicklung) durchgeführt; die Überprüfung der Datenanalyse erfolgte durch Kelly Kiki (iMEdD Lab).  

14 weitere EDJNet-Mitglieder beteiligten sich an dieser Untersuchung, die von Oktober 2022 bis Februar 2023 durchgeführt wurde: Deutsche Welle (Deutschland), Openpolis, OBC Transeuropa (Italien), Civio, El Confidencial (Spanien), Divergente (Portugal), CINS (Serbien), Pod črto (Slowenien), BIQdata/Gazeta Wyborcza, Frontstory.pl (Polen), Deník Referendum (Tschechien), EUrologus/HVG (Ungarn), PressOne (Rumänien), Journalism++ (Schweden). Drei weitere Redaktionen steuerten Daten aus ihren jeweiligen Ländern bei: Atlatszo (Ungarn), Investigace (Tschechische Republik) und Noteworthy (Irland). EfSyn ist der Hauptveröffentlichungspartner.

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