Fortpflanzungs-Migration
Jedes Jahr reisen Hunderte Europäer ins Ausland, um sich einer Fruchtbarkeitsbehandlung zu unterziehen. Eine zweimonatige Untersuchung analysiert, was über dieses weitgehend verborgene Phänomen bekannt und was noch zu entdecken ist.
Fortpflanzungs-Migration
Jedes Jahr reisen Hunderte Europäer ins Ausland, um sich einer Fruchtbarkeitsbehandlung zu unterziehen. Eine zweimonatige Untersuchung analysiert, was über dieses weitgehend verborgene Phänomen bekannt und was noch zu entdecken ist.
Karole Di Tommaso und Alessia Arcolaci, ein gleichgeschlechtliches Paar aus Italien, entschieden sich im Jahr 2015 dafür, ihren Kinderwunsch zu konkretisieren. Aber es gab ein großes Hindernis zu überwinden: Gesetzliche Beschränkungen hinderten sie daran, in ihrem Heimatland Kinder zu bekommen. Nach der Sondierung einer Vielzahl unterschiedlicher Optionen in anderen europäischen Ländern entschied sich das Paar für eine Klinik in Barcelona, Spanien. Die Entscheidung wurde sowohl durch die geografische und kulturelle Nähe, als auch die Kosten begründet. Nach vier Behandlungszyklen brachte Arcolaci 2016 schließlich ein gesundes Baby zur Welt.
Mehrere hundert Europäer reisen jedes Jahr ins Ausland, um von den Assisted Reproductive Technologies (kurz ART, künstliche Befruchtung) Gebrauch zu machen. Experten nennen es „cross-border reproductive care“ (kurz CBRC, grenzüberschreitende reproduktive Versorgung). Mit anderen Worten: Die Migration von Einzelpersonen oder Paaren, die zur ART-Behandlung in ein anderes Land als ihr Herkunftsland kommen.
Im Rahmen einer zweimonatigen Untersuchung haben wir eine Analyse dessen durchgeführt, was über dieses weitgehend versteckte Phänomen bekannt ist, sowie dem, was noch zu lernen ist.
Nach Angaben der European Society of Human Reproduction and Embryology (kurz ESHRE, Europäische Fachgesellschaft für Reproduktionsmedizin und Embryologie), die seit zwei Jahrzehnten die ART untersucht, wurden in Europa im Jahr 2014 genau 776.556 Zyklen registriert. Für diesen Zeitraum sind die verfügbaren Daten am vollständigsten. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies einer Steigerung von 13,1 Prozent.
Heutzutage heißt es, dass ART besonders auf dem Alten Kontinent beliebt ist. Das unterstreichen auch die Fakten. Zahlenmäßig führen die Europäer: Sie nehmen etwa 50 Prozent aller weltweit gemeldeten Behandlungen vor.
Eine weitere wichtige Größe ist die Anzahl der Kliniken. Im Vergleich zu den Daten von 1997 ist die Zahl der auf diese Verfahren spezialisierten europäischen Einrichtungen bis 2014 von 482 auf 1.279 Kliniken gestiegen, was einer Zunahme von 165 Prozent entspricht.
Experten gehen davon aus, dass diese Popularität durch den technologischen Fortschritt angekurbelt wird, beispielsweise die Möglichkeit, Gameten für eine zukünftige Verwendung aufzubewahren, sowie die wachsende Zahl homosexueller Paare, die Kinder haben wollen. Niedrige Fruchtbarkeitsraten und Lebensstil-Faktoren tragen ebenfalls zur Entwicklung des ART-Sektors bei.
Der Zugang zur ART-Behandlung in Europa ist allerdings von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Daten zeigen, dass kleine Länder wie Belgien, die Tschechische Republik und Dänemark im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die höchsten Raten von ART-Behandlungen aufweisen. Währenddessen sind Spanien, Russland und Frankreich insgesamt die drei aktivsten Länder. Konkret bedeutet dies, dass in Spanien 109.275 Behandlungszyklen durchgeführt wurden, gefolgt von Russland (94.985 Zyklen) und Frankreich (90.434).
Allerdings ist das noch lange nicht die ganze Geschichte.
Derzeit ist es den Forschern nicht möglich, eine vollständige Datenbank über die Nationalitäten der Europäer zu erstellen, die sich im Ausland behandeln lassen. Dies bestätigen Eurostat, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die ESHRE und mehrere Experten und Beamte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Darüber hinaus haben die Gesundheitsbehörden der 28 EU-Mitgliedstaaten diese Daten nicht weitergegeben. Mehrere von ihnen haben auf unsere – mehrfachen – Bitten um Auskünfte nicht geantwortet. Nur zwei Länder teilten ihre Daten über die Staatsangehörigkeit von Patienten in ihren Ländern mit: Slowenien und Bulgarien.
Nach Angaben der Behörden von Ljubljana wurde die Mehrheit der IVF/ICSI-Zyklen (ICSI für Intrazytoplasmatische Spermieninjektion) im Jahr 2014 an slowenischen Patienten durchgeführt. Allerdings gab es auch eine kleinere Gruppe von nicht-slowenischen Patienten aus Kroatien (67 Patienten), Bosnien und Herzegowina (51), Serbien (29), Italien (14), Montenegro (5) und anderen (16). Die bulgarischen Daten waren noch weniger aufschlussreich.
Da Einzelpersonen und Paare, die sich einer ART-Behandlung unterziehen, gebeten werden, ihre biografischen Informationen zu teilen, ist unklar, warum die Länder diese Daten nicht zur Verfügung stellen.
Andererseits deuten die in den letzten zehn Jahren durchgeführten Umfragen darauf hin, dass das CBRC-Phänomen nicht unerheblich ist. Allein im Jahr 2014 wurden 17.160 Zyklen für grenzüberschreitende Patienten vom EIM-Konsortium (EIM für European IVF Monitoring) registriert. Das geht aus dem Bericht der Organisation für 2018 hervor. Diese Zahl beruht jedoch auf den Daten von nur 15 der 39 betrachteten Länder, und umfasst nicht die Länder mit hohen ART-Behandlungsraten wie Belgien, Tschechien, Frankreich und Russland. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass die Gesamtzahl der grenzüberschreitenden Patienten wahrscheinlich höher ist.
Ferner ergab die Studie, dass 36,4 Prozent der CBRC der künstlichen Befruchtung (IVF) oder der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) mit den eigenen Keimzellen des Paares durchgeführt wurden, während 45,6 Prozent mithilfe von Eizellenspenden (ED für egg donation) und 17,4 Prozent der IVF oder ICSI mithilfe von Samenspenden realisiert wurden.
Auch andere Experten haben versucht, diese Form der Reproduktionsmedizin zu erforschen. Eine der größten Studien wurde von Karl Nygren organisiert, der 2006 in 23 Ländern Informationen erhoben hat. Seine Schätzungen deuten darauf hin, dass die meisten grenzüberschreitenden Reproduktionsbehandlungen in Europa Reisen in andere europäische Länder mit sich bringen, aber nicht auf andere Kontinente.
Ein zweiter Versuch wurde von Françoise Shenfield unternommen, die 2010 schätzte, dass es in Europa jedes Jahr etwa 24-30.000 CBRC-Zyklen mit 11-14.000 Patienten gab. Shenfield befragte Frauen, die zur Behandlung in 44 Kinderwunschkliniken in sechs europäischen Ländern gereist sind.
Laut Shenfields Forschung reiste die Mehrheit der Italienerinnen nach Spanien und in die Schweiz, die meisten deutschen Frauen fuhren in die Tschechische Republik, die meisten niederländischen und französischen Frauen gingen nach Belgien, und die meisten norwegischen und schwedischen Frauen entschieden sich für Dänemark. Shenfield fand auch heraus, dass der Anteil der Frauen ab 40 Jahren 51,1 Prozent der Teilnehmer aus Deutschland und 63,5 Prozent aus dem Vereinigten Königreich erreichte, verglichen mit 32,2 Prozent aus Italien und 30,2 Prozent aus Frankreich.
Ungleichheiten
Es gibt einige einleuchtende Gründe, warum Einzelpersonen sich für eine Reproduktionsbehandlung im Ausland entscheiden. Jacques De Mouzon, der ehemalige Vorsitzende des EIM-Konsortiums und Autor einer Arbeit über CBRC in Europa, betont, dass die Situation in jedem Land anders ist. Grund hierfür: Die Gesetze, die Kostenerstattung und die Normen rund um die Konzeption sind in jedem europäischen Staat unterschiedlich. „Es gibt Länder, die restriktiver sind, wie Italien, Frankreich, Albanien, Malta, Slowenien und die Schweiz. Und andere, die sehr offen sind, wie Großbritannien, Belgien, Dänemark und Spanien.“
In Italien beispielsweise ist der Zugang zu Behandlungen für gleichgeschlechtliche Paare oder Einzelpersonen nicht gestattet, während Dänemark Personen, die ART in Anspruch nehmen, „eine staatliche Rückerstattung für die Zyklen ermöglichen, wo immer sie diese auch durchführen“.
Natürlich spielen auch hier sozioökonomische Faktoren eine große Rolle. „Jeder Zyklus kostet zwischen 3.000 und 6.000 Euro, einschließlich der Medikamente. Und bei grenzüberschreitenden Patienten müssen die Betroffenen die Kosten für Reisen und Aufenthalt im Ausland dazurechnen. Die untere Mittelschicht kann sich das sicher nicht leisten“, erklärt De Mouzon.
Eine Frau, die sich fast zehn Jahre lang behandeln ließ, sagte: „ART-Behandlungen können sehr aufwendig sein: Sowohl finanziell als auch emotional. Ich habe Dutzende von Zyklen gemacht, bevor ich schwanger wurde. Ich hatte fast jeden Glauben in das Verfahren verloren“. Nach inoffiziellen Angaben kann eine erfolgreiche ART-Behandlung im Ausland zwischen 25.000 und über 100.000 Euro kosten.
Die WHO schätzt, dass Gameten- oder Embryonenspenden und Leihmutterschaft die häufigsten Formen der grenzüberschreitenden Behandlung sind. Allerdings ist die Leihmutterschaft derzeit nur in wenigen europäischen Ländern möglich.
Zudem ist eine erfolgreiche Konzeption für viele Einzelpersonen in Ländern mit restriktiver Gesetzgebung keineswegs die letzte Hürde. Für das oben genannte italienische gleichgeschlechtliche Paar gibt es ein weiteres Problem: Das Gesetz erkennt nur die Person an, die das Kind als Elternteil geboren hat. „Es gibt Wege, dieses Hindernis zu überwinden, aber wir müssen eine Rechtsbeschwerde einlegen“, erklärte Di Tommaso. „An dieser Stelle werde ich nur in Spanien als Mutter angesehen, nicht in Italien.“