Flüchtlingskrise: Zwischen Wahrheit und Unwahrheit
Die lange Reise der Migranten auf See, die von Italien abgelehnt und durch die Aquarius gerettet wurden, bevor sie im spanischen Valencia an Land gingen, ist die jüngste Episode einer Krise, die Europa heimsucht.
Flüchtlingskrise: Zwischen Wahrheit und Unwahrheit
Die lange Reise der Migranten auf See, die von Italien abgelehnt und durch die Aquarius gerettet wurden, bevor sie im spanischen Valencia an Land gingen, ist die jüngste Episode einer Krise, die Europa heimsucht.
Während Italiens und Österreichs rechtsextreme Innenminister – Matteo Salvini und Herbert Kickl – ankündigen, mit ihrem deutschen konservativen Amtskollegen Horst Seehofer eine Achse gegen die illegale Einwanderung bilden zu wollen, sind Angela Merkel und Emmanuel Macron gezwungen, ihre Partner aufzufordern, gemeinsam eine europäische Lösung zu finden.
In einer gemeinsamen Erklärung äußerten die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident ihre Absicht, die Herkunfts- und Transitländer stärker zu unterstützen. Als sie sich am 19. Juni auf Schloss Meseberg bei Berlin trafen, um die Tagung des Europäischen Rates vom 28. Juni vorzubereiten, erklärten sie ihr gemeinsames Ziel wie folgt: „Ausreisen nach Europa sollen vermieden und irreguläre Migration bekämpft werden“. Mit anderen Worten soll vor allem verhindert werden, dass die Ausreisewilligen übers Meer nach Europa gelangen, d. h. sie sollen daran gehindert werden, die libysche Küste zu verlassen. Dabei könnten „regionale Ausschiffungsplattformen helfen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees, kurz UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM)“ betrieben würden. Derzeit ist die geografische Lage der Plattformen allerdings noch unbekannt.
Um den Migranten zu helfen müssen humanitäre, wirtschaftliche und soziale Lösungen auf europäischer Ebene gefunden werden. Allerdings hält der extremistische Diskurs der europäischen Rechten über die Zahl der Flüchtlinge, die das Mittelmeer oder die Alpen massenhaft überqueren, um sich auf dem Alten Kontinent niederzulassen, den Zahlen nicht Stand. Wagen wir eine rückblickende Analyse dieses Phänomens in vier Punkten.
1/ Starker Rückgang der Ankünfte über den Seeweg
Zwischen 2015 und 2017 hat Italien in den ersten fünf Monaten des Jahres durchschnittlich zwischen 9.000 und 12.000 Migranten aufgenommen, die mit Booten auf der anderen Seite des Mittelmeers ankamen. Bis 2018 ist dieser Durchschnitt auf 3.000 gesunken. Seit September 2017 hat Italien innerhalb von einem Monat nicht mehr als 6.000 Migranten aufgenommen.
Ankunft der Migranten mit Booten in Italien: Die Lage beruhigt sich
Monatliche Ankünfte von Flüchtlingen, die das Mittelmeer überqueren, in Italien
Die derzeitigen Flüchtlingsströme sind nach wie vor beträchtlich, aber erreichen bei weitem nicht das Niveau der Vorjahre, insbesondere nicht das des Herbstes 2015. Damals wurden jeden Monat mehr als 150.000 Migranten aufgenommen, und zwar vor allem in griechischen, spanischen und italienischen Häfen.
Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) schätzt, dass seit Anfang des Jahres 845 Migranten während der Mittelmeerüberquerung gestorben oder verschwunden sind. Im Jahr 2016 belief sich diese Zahl auf 5.096, und im Jahr 2017 auf 3.139 Flüchtlinge.
2/ Rückgang der Asylanträge
Betrachtet man alle Asylanträge, die in den europäischen Ländern seit Anfang 2015 registriert wurden, d. h. dem Jahr, in dem bis März 2018 die meisten Ankünfte in der Union verzeichnet wurden, so wird deutlich, dass die 3.435.000 Anträge niemals mehr als 0,67 Prozent der 510 Millionen Einwohner der Europäischen Union ausgemacht haben. Von einer „Invasion“ sind wir also noch sehr weit entfernt.
Bezüglich der Aufnahme dieser Asylbewerber bestehen dagegen nach wie vor erhebliche Ungleichgewichte zwischen den Ländern. Neun europäische Länder registrierten Anträge, die weniger als 0,1 Prozent ihrer Bevölkerung ausmachten. Dabei handelt es sich hauptsächlich um die mittel- und osteuropäischen Länder, aber auch ein Balkanland – Kroatien -, und ein westeuropäisches Land – Portugal.
Von den „Ländern entlang der Front“, die dem anderen Ufer des Mittelmeers am nächsten liegen, hat Spanien bisher die wenigsten Asylbewerber aufgenommen, d. h. weit weniger als Frankreich, und fast so wenige wie das Vereinigte Königreich. Aber selbst in Italien, wo dieses Thema in den letzten Monaten für starke politische Spannungen gesorgt hat, wurden in Wirklichkeit weniger Asylanträge gestellt als im europäischen Durchschnitt, und im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil kaum mehr als Frankreich. Dies ist jedoch nicht der Fall in Griechenland, Malta und Zypern, wo der Anteil der Asylbewerber doppelt so hoch ist wie der europäische Durchschnitt.
Allerdings handelt es sich hierbei jedoch nicht um die Länder, die den größten Zustrom von Flüchtlingen erlebt haben. Das europäische Land, das – im Vergleich zu seinem Bevölkerungsanteil – bisher die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, ist Schweden. Dort beträgt dieser Anteil mit 2,26 Prozent mehr als das Dreifache des europäischen Durchschnitts. Es folgen Ungarn, Österreich und Deutschland. In diesen vier Ländern hat diese Frage die öffentlichen Diskussionen stark polarisiert, obwohl die Zahl der Asylbewerber in Wirklichkeit trotzdem sehr bescheiden ist.
3/ Der Anteil der Einwanderer an der europäischen Bevölkerung variiert stark
Der Anteil der Zuwanderer an der Bevölkerung jedes einzelnen Landes ist auf dem Alten Kontinent sehr unterschiedlich. Und entgegen der weitverbreiteten Auffassung ist dieser in Frankreich, bzw. in anderen Ländern mit einer langen Einwanderungsgeschichte – wie Großbritannien oder Deutschland – nicht besonders hoch.
Darüber hinaus sind bedeutende Unterschiede im Hinblick auf die Herkunftsländer zu beobachten. So war die zweithäufigste Herkunfts-Nationalität der 2017 in Schweden ankommenden Einwanderer die finnische Staatsbürgerschaft… gleich nach der syrischen, und gefolgt von der irakischen und der polnischen. In Frankreich liegen die Algerier und Marokkaner an der Spitze, gefolgt von den Portugiesen.
4/ Asien: Erstes Aufnahmegebiet für Flüchtlinge
Im Jahr 2017 schätzten die Vereinten Nationen, dass es weltweit 257,7 Millionen Migranten gibt, was 3,4 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Richtig ist, dass es zuvor noch nie so viele Migranten gegeben hat: 2010 waren es nur 220 Millionen und 1990 152,5 Millionen. Allerdings nimmt der asiatische Kontinent den größten Anteil auf (80 Millionen), dicht gefolgt von Europa (78 Millionen).
Weit entfernt vom Bild der „Scharen“ aus armen Ländern, die an die Türen der reichen Länder klopfen, zeigen die jüngsten Daten, dass die Süd-Süd-Ströme inzwischen zahlenmäßig größer sind als die Süd-Nord-Ströme. Ferner machen sie auch deutlich, dass die meisten dieser Wanderungen innerhalb desselben Kontinents stattfinden. Im Jahr 2017 lag die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden bei knapp 26 Millionen, demnach nur…. 0,34 Prozent der Gesamtbevölkerung.
https://www.alternatives-economiques.fr/crise-migrants-vrai-faux/00085118