“Diese Karte sagt viel aus, aber nur für diejenigen, die etwas ändern wollen.”

Interview mit Ceyda Ulukaya, Journalistin und Entwicklerin der ersten Karte der Frauenmorde in der Türkei, einem neuartigen und wertvollen Projekt des Datenjournalismus.

Published On: März 9th, 2018
“Diese Karte sagt viel aus, aber nur für diejenigen, die etwas ändern wollen.”_62cef8e299615.jpeg

“Diese Karte sagt viel aus, aber nur für diejenigen, die etwas ändern wollen.”

Interview mit Ceyda Ulukaya, Journalistin und Entwicklerin der ersten Karte der Frauenmorde in der Türkei, einem neuartigen und wertvollen Projekt des Datenjournalismus.

Ceyda Ulukaya, die Journalistin, die die Karte der Femizide in der Türkei erstellt hat. 

Ceyda Ulukaya ist Journalistin und Entwicklerin der ersten Karte der Frauenmorde in der Türkei. Das Projekt, das in Zusammenarbeit mit Sevil Şeten und Yakup Çetinkaya realisiert wurde, gehörte 2016 zu den Finalisten der Data Journalism Awards im Bereich Small Newsroom. Die Karte deckt den Zeitraum von 2010 bis 2017 ab, in dem mindestens 1964 Frauen getötet wurden. Neben Datum und Ort der Morde lassen sich die Informationen auch nach Angaben zu den getöteten Frauen, Art der Beziehung, die die Mörder zu den Opfern hatten, „Vorwand“ für den Mord und den Ausgang in Bezug auf den Mörder filtern. Für die Journalistin ist es fast ein Kriegsbericht. Unser Interview:

Wie ist die Idee zu diesem Projekt entstanden?

Sie entstand Ende 2014, nachdem ich tiefer in den Datenjournalismus eingestiegen war. Ich kannte das Bianet und ich kannte dessen Jahresberichte über männliche Gewalt, da ich dort ein Praktikum absolviert hatte. Folglich habe ich eine Analyse der Daten aus dem Istanbuler Übereinkommen begonnen, das die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, Daten über die Ermordung von Frauen zu sammeln. Die Idee dahinter war, eine Karte zu erstellen, die das Ausmaß des Phänomens auf einfache und unmittelbare Weise hervorhebt, vor allem für diejenigen, die sich nicht ausdrücklich mit dem Thema befassen. Ich bewarb mich für das Programm Objective der Plattform P24 und erhielt über einen Fonds für investigativen Journalismus Gelder für die Durchführung der einjährigen Arbeit. Die Website wurde dann erstmals am 25. November 2015 veröffentlicht. Ich möchte das Projekt für einen Zeitraum von mindestens 10 Jahre durchführen, also bis 2020, aber dafür müssen neue Finanzierungsmittel gefunden werden.

Von welchen Quellen haben Sie die Daten erhalten?

Am Anfang war ich davon ausgegangen, die benötigten Daten von den verschiedenen Ministerien zu erhalten, auf der Grundlage des Rechts auf Zugang zu öffentlichen Informationen. Ich hoffte, auch detaillierte Informationen zu den Frauen zu bekommen. Leider wurde keine der von mir gestellten Anfrage beantwortet. Ich wurde von einer Stelle zur anderen verwiesen – ich solle doch eine Anfrage an das Justizministerium, die Gendarmerie, die Polizeistation, das Innenministerium richten… Beim Innenministerium wurde mir gesagt, dass die angeforderten Daten zusätzliche Arbeit verursachen würden und es daher nicht möglich sei, diese zu übermitteln.

Aber haben die Ministerien keine eigenen Daten?

Die Ministerien, insbesondere das Ministerium für Familienpolitik, veröffentlicht regelmäßig Statistiken zu diesem Thema. Letzteres berichtete bereits 2009, dass die Zahl der ermordeten Frauen um 1400 Prozent gestiegen sei, was viel Aufsehen erregte. Das Ministerium aktualisierte dann diese Daten mit Zahlen, die viel „akzeptabler“ waren. Als ich jedoch den Zugang zu diesen Informationen beantragte, sagte man mir, dass es solche Informationen nicht gäbe. Es ist daher nicht klar, ob das Ministerium tatsächlich im Besitz dieser Daten ist. Aufgrund dieser Inkonsistenz haben einige Frauenorganisationen und auch das Bianet begonnen, die Fälle von Frauenmord zu zählen. Angesichts dieser Schwierigkeiten und dem Wunsch nach größtmöglicher Transparenz sind die Medien zur direkten Quelle für diese Daten geworden.

Welche Methode haben Sie angewandt, um die Daten zu sammeln?

Ausgangspunkt waren die Bianet-Berichte über männliche Gewalt. Darin hieß es zum Beispiel, dass eine Frau, deren Namen mit Initialen genannt wurde, durch Messerstiche in einer bestimmten Stadt getötet wurde. Insbesondere in älteren Fällen werden häufig Initialen für die getöteten Frauen verwendet. In den Fällen, in denen Informationen fehlten, habe ich die Informationen über Google gesucht. Ich gab die Informationen ein, die ich vorliegen hatte, oder stellte mir die Schlagzeile vor, die die lokale Zeitungen dem Fall gegeben haben könnten. Auf diese Weise gelangte ich für jeden einzelnen Fall zu dem damaligen Pressebericht. Die erste Karte enthielt die Daten von 2010 bis 2015. Inzwischen deckt die Karte alle Fälle bis Ende 2017 ab.

Glauben Sie, dass die Medien lückenlos über die Fälle von Frauenmorden berichten?

Auf keinen Fall. Deshalb bestehen wir darauf, dass bei der Angabe der Zahlen immer gesagt wird, dass es um Mindestzahlen geht. Es gibt auch Fälle, in denen die Frauen zum Selbstmord gedrängt werden. Auch über diese Fälle wurde ab und zu berichtet, aber es gibt weiterhin Ungewissheit zu diesem Thema, und man kann unmöglich genau sagen, welche und wie viele Fälle es dazu gab. Viele andere Morde werden verschwiegen. Am 25. November 2017 habe ich zum Beispiel ein Video erstellt und zusammen mit einer Erläuterung der Kartendaten zum Thema Frauenmorde an die verschiedenen Medien geschickt. Laut den Kartendaten war Bayburt die einzige Stadt, in der keine Frauen getötet wurden. Und die Medien berichteten, dass Bayburt die ideale Stadt für Frauen sei. Aber ein paar Tage später erhielt ich eine E-Mail, in der ich gebeten wurde, dieses unverdiente Bild der Stadt zu korrigieren, mit einem Link zu einer Nachricht über ein dort begangenes Verbrechen an einer Frau. Es gibt also Fälle, in denen die Nachrichten in lokalen Zeitungen erscheinen, aber nur ein kleines Publikum erreichen und so im Schatten bleiben. Zumindest gibt es jedoch jetzt einen zusätzlichen Kanal, über den die Menschen Hinweise geben können.

Welcher ist der Hauptvorwand für Frauenmorde in der Türkei?

Zuerst einmal finden wir einen „undefinierbaren“ Vorwand. Das bedeutet, dass in 22,4 Prozent der Fälle, die Berichte in der Presse keine Informationen über die Ursache der Straftat lieferten. An zweiter Stelle steht der Vorwand „Streit/Diskussion“ (in 16,5 Prozent der Fälle), aber auch das ist ein äußerst vages Motiv. Es ist schwer zu glauben, dass es in all den anderen Fällen vor dem Mord nicht gestritten wurde. Die dritte Möglichkeit „Verdacht auf Untreue“ liefert hingegen Anlass zum Nachdenken. Es muss aber gesagt werden, dass die Kategorie „Vorwand“ auf der Grundlage von Aussagen der Verantwortlichen für die Morde erstellt wurde. Aber es kommt oft vor, dass viele Täter als Grund „Verdacht auf Untreue“ angeben, weil sie sich davon ein geringeres Strafmaß erhoffen. Andere mildernde Faktoren sind gutes Benehmen – wenn der Mann zum Beispiel mit Krawatte vor Gericht erscheint und sich vor dem Richter reuig zeigt. Wir sehen eine Verkürzung der Freiheitsstrafe von lebenslang auf acht Jahre, weil die Provokation, die die Männer angeblich erlitten haben, ihr gutes Benehmen vor dem Richter und das Strafrecht berücksichtigt werden. Ein weiterer häufiger Vorwand ist die Weigerung seitens der Frau, den Versöhnungsvorschlag des Mannes zu akzeptieren. Das sind die Fälle, in denen zum Beispiel der Mann zur Frau geht, die nach der Trennung ins Elternhaus zurückgekehrt ist. Der Mann geht dorthin, um sich zu versöhnen, aber mit einer Waffe. Sollte sein Versöhnungsversuch von der Frau nicht akzeptiert werden, wird die Frau getötet und manchmal sogar die Menschen, die in dem Moment bei ihr sind. Aber auch Fälle, in denen eine Frau gelacht hat oder die Wäsche nicht gewaschen hat, sind Gründe, sie zu töten.

Wer sind die Männer, die die Morde begehen?

Ehemänner stehen an erster Stelle (40,6 %), Freund/Verlobter an zweiter Stelle (11,4 %). Der „unbekannte“ Angreifer steht an achter Stelle und repräsentiert nur 3,8 Prozent der Fälle. Die Verantwortlichen für Frauenmorde sind fast immer Männer, die zum täglichen Leben der Frau gehören und in einer engen Beziehung zu ihr stehen. Das ist eine tragische Situation, denn in dieser Kategorie finden wir sehr viele Verwandte ersten Grades, inklusive Väter, Brüder, Schwestern, Schwager und Kinder.

Was steht im Bereich „Ausgang der Morde“?

In 59,7 Prozent der Fälle wurden die Täter verhaftet. Das zweithäufigste Ergebnis (17,6 %) ist der Selbstmord des Mörders, gefolgt von der Selbststellung bei der Polizei (11,5 %). In 6,2 Prozent der Fälle ist das Ergebnis „unbekannt“, aber nur, weil in den Zeitungen nicht darüber berichtet wurde. Es war mir nicht möglich, das gesamte gerichtliche Verfahren der einzelnen Fälle zu verfolgen. Aber es gibt Frauenorganisationen, die dies tun. Ich habe jedoch andere Daten verfolgen wollen. Ich wollte festhalten, ob die Frau vor dem Mord versucht hat, sich von dem Mann zu trennen oder sich scheiden zu lassen. Ob sie bei den Behörden Anzeige erstattet hatte oder ob es frühere Gewaltausbrüche gegeben hat. Die Karte zeigt, dass mindestens 246 Frauen Anzeige wegen Bedrohung erstattet hatten, wobei es bei 369 Fällen vor dem Mord zu Gewalt oder Drohungen gekommen war.

Welches Gesamtbild ergibt sich aus dieser Karte?

Die Presse berichtet über diese Morde wie über Verbrechen und Unfallberichte, als ginge es um Einzelfälle oder tragische Ereignisse. Aber wenn wir sie als Ganzes betrachten, entsteht ein einziges, sich wiederholendes Muster. Diese Morde ähneln sich alle, haben ähnliche Tatgründe und Täter, von denen die meisten zum Familienkreis der Opfer gehören. Das verrät uns viel über den Ursprung des Problems und wie es bekämpft werden könnte. Aber die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen, hängt von der Absicht ab. Wenn man wollte, könnte man in den Orten mit einer höheren Zahl von Morden Schutzmaßnahmen für Frauen entwickeln; auf nationaler Ebene könnte man effizientere rechtliche Maßnahmen ergreifen. So könnte man beispielsweise sicherstellen, dass der Vorwand „Verdacht auf Untreue“ kein strafmildernder Faktor mehr wäre. Das Istanbuler Abkommen ist ein sehr wichtiges Instrument. Es verlangt von den Staaten, alle Frauenmorde aufzulisten, was aber nicht getan wird. Diese Karte sagt viel aus, aber nur für diejenigen, die etwas ändern wollen.

Stay up to date with our newsletter!