Die französische Kernenergie, ein europäisches Problem
Wird geschlossen, wird nicht geschlossen? In den kommenden Tagen wird die französische Regierung bekannt geben, ob sie im Rahmen ihrer „mehrjährigen Energieplanung“ (programmation pluriannuelle de l'énergie, kurz PPE) für die Jahre 2019-2028[1]endgültig Kernreaktoren stilllegen wird oder nicht. Dabei handelt es sich um ein seit mehr als vier Monaten erwartetes wichtiges Leitliniendokument, in dem das Land seinen Energieproduktions- und Energieverbrauchs-Kurs als Teil seines Beitrags zu den europäischen Klima-Anstrengungen angeben muss[2].
Die französische Kernenergie, ein europäisches Problem
Wird geschlossen, wird nicht geschlossen? In den kommenden Tagen wird die französische Regierung bekannt geben, ob sie im Rahmen ihrer „mehrjährigen Energieplanung“ (programmation pluriannuelle de l’énergie, kurz PPE) für die Jahre 2019-2028[1]endgültig Kernreaktoren stilllegen wird oder nicht. Dabei handelt es sich um ein seit mehr als vier Monaten erwartetes wichtiges Leitliniendokument, in dem das Land seinen Energieproduktions- und Energieverbrauchs-Kurs als Teil seines Beitrags zu den europäischen Klima-Anstrengungen angeben muss[2].
Die Exekutive ist bei der Vorlage ihres Energiefahrplans in Verzug geraten, weil sich die Umsetzung des Gesetzes von 2015 auf hoher Ebene verzögert hat, zumal es Frankreich verpflichtet, den Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung auf 50 Prozent zu senken. Dabei ist dieser Anteil außergewöhnlich hoch (71 Prozent im Jahr 2017), und mit Blick auf Europa und anderswo durchaus einzigartig.
Um unter Einhaltung der anderen Ziele des Energiewende-Gesetzes von 2015 (über die Entwicklung des Energieverbrauchs und der Erzeugung erneuerbarer Energien) zu einem Kernenergie-Niveau von 50 Prozent zurückzukehren, müsste Frankreich 17 bis 20 von 58 Reaktoren schrittweise schließen. Insbesondere jene, die nach und nach eine Betriebsdauer von 40 Jahren erreichen werden, d. h. die Altersgrenze, für die sie konzipiert wurden. Dies geht aus dem Jahresbericht des Rechnungshofes für 2016 vor. Allerdings hört die Regierung in diesem Fall hauptsächlich auf ihre Atomlobby, die sie auffordert, diese Stilllegungen so weit wie möglich zu begrenzen, indem sie die Lebensdauer ihrer Kernreaktoren verlängert.
Laut dem Regierungsdokument, das gestern publik wurde, liegen drei Szenarien auf dem Tisch. Das erste, das vom Umweltministerium kommt, plant 6 Schließungen zwischen 2023 und 2028 und 6 weitere zwischen 2029 und 2035, d. h. zusätzlich zum Kraftwerk Fessenheim insgesamt 12. Darüber hinaus werden keine neuen Baustellen während der fünfjährigen Amtszeit des Staatspräsidenten beschlossen. Das zweite Szenario basiert auf den Forderungen der französischen Elektrizitätsgesellschaft EDF: Keine zusätzliche Reaktorabschaltung vor 2029 und die Verlängerung der Lebensdauer der Anlagen auf 50 Jahre.
Dieses zweite Szenario sieht also – wie das erste – ein Dutzend dauerhafte Stilllegungen vor, die sich jedoch auf den Zeitraum 2029-2035 konzentrieren. Wie im 1. Szenario würde in dieser fünfjährigen Amtszeit keine Entscheidung über die EPR getroffen werden, im Gegensatz zu Szenario 3 des Wirtschaftsministeriums, das vier neue EPRs schaffen will, von denen die ersten beiden im Jahr 2034 eingeweiht werden sollen, was eine rasche Entscheidung erfordern würde. Darüber hinaus würden diesem Szenario zufolge zwischen 2028 und 2035 nur 9 Reaktoren geschlossen werden.
Im Vergleich zu der im Bericht des Rechnungshofs enthaltenen Einschätzung haben diese drei Szenarien folgendes gemein: Sie minimieren die Anzahl der Reaktorabschaltungen bis 2035. Parallel dazu wird in allen Szenarien erwartet, dass die Einrichtung neuer erneuerbarer Kapazitäten (sie erreichte 2017 2,8 GW) beschleunigt wird. Dabei dürfte der Stromverbrauch in Frankreich laut der jüngsten Prognose-Bilanz des (Übertragungsnetzes) RTE zumindest bis 2035 stagnieren oder sinken, was zu einem hohen Überschuss an Stromerzeugung führen wird… welchen Frankreich dann in der Lage sein muss, auf die europäischen Märkte zu exportieren.
Was wie eine franko-französische Debatte aussieht, wird in dieser Hinsicht zu einem sehr europäischen Thema. Wenn sich Frankreich, wie es im Begriff ist, für ein starkes Stromexport-Szenario entscheidet (um seine Reaktor-Flotte so weit wie möglich zu erhalten), kann dies nur zu einer Verschärfung der Überkapazitäten führen, unter der das westeuropäische Elektro-Netzwerk ohnehin schon seit mehreren Jahren leidet. Der Grund hierfür ist einerseits die stagnierender Stromnachfrage[3]in ganz Europa, andererseits die gleichzeitige rasante Entwicklung der Produktion aus erneuerbaren Quellen.
Eine solche Situation des Kapazitätsüberhangs wird unweigerlich dazu führen, dass die Großhandelspreise für Strom auf den europäischen Märkten dauerhaft sinken und damit die Stromerzeuger benachteiligt werden. Mit niedrigen Gewinnspannen werden sie Schwierigkeiten bei der Investition haben, was letztendlich den Ausstieg aus Kohle und Gas, sowie die Entwicklung erneuerbarer Energien verlangsamen wird.
Neben dem wirtschaftlichen Risiko eines solchen Szenarios besteht natürlich auch das Risiko eines Unfalls. Die Verlängerung der Lebensdauer von Reaktoren erschwert den Betrieb unter optimalen Sicherheitsbedingungen, insbesondere wenn der Rückgang der Gewinnspannen die Elektriker daran hindert, in die Reaktorsicherheit zu investieren. Die Folgen eines schweren Unfalls in Frankreich würden natürlich nicht an den Grenzen Halt machen, und einen großen Teil Europas beeinträchtigen. Wir neigen dazu, dies zu vergessen, aber aufgrund der besonderen Entscheidungen Frankreichs ist die EU weltweit die Region mit der meisten Kernenergie.
Das Problem der europäischen Strom-Überkapazität, das derzeit besteht und sich künftig durch die Entscheidungen von Paris zu verschärfen droht, könnte jedoch durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gelöst werden. Insbesondere Frankreich und Deutschland könnten sich auf einen gemeinsamen und koordinierten Ausstieg aus dem ‚schmutzigen Strom‘ einigen, nach dem Motto: „Um Platz für erneuerbare Energien zu schaffen, schaltest Du Deine alten Kohlekraftwerke ab, und ich schalte meine alten Reaktoren ab“.
Allerdings zieht Frankreich absolut nicht in Erwägung, die Atomenergie aufzugeben. Im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn, die ihr längst den Rücken gekehrt haben (Italien, Irland, Griechenland, die baltischen Staaten usw.), oder gerade dabei sind, dies zu tun (Deutschland, Belgien, Spanien usw.). Ganz im Gegenteil: Frankreich schließt nicht einmal den Bau einer Reihe von EPRs (European Pressurized Reactor) aus, um die elektrischen Kapazitäten zumindest teilweise zu erneuern, die derzeit von ihrer Flotte von Reaktoren bereitgestellt werden, von denen 48 von 58 bis 2028 das Alter von 40 Jahren überschritten haben werden.
Eine solche Entscheidung stellt nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa die Frage der Sicherheit. Obwohl diese EPRs für mehr Sicherheit als frühere Generationen ausgelegt sind, leidet der in Flamanville im Bau befindliche Reaktor unter schweren Fabrikationsfehlern im Reaktorbehälter und in den Schweißverbindungen des Primärkreises. Darüber hinaus werden diese zukünftigen Reaktoren dazu beitragen, die Menge der radioaktiven Abfälle zu erhöhen, die in Europa anfallen.
Frankreich hat es umso mehr eiliger, einen Binnenmarkt für seine EPRs zu finden, da es ihm nicht gelingt, sie im Ausland zu verkaufen. Einerseits stellen die asiatischen Wettbewerber ein Hindernis dar. Andererseits ist die Kernenergie vor allem eine Industrie, deren Verfall unumkehrbar erscheint. Das zeigen die Zahlen des unabhängigen Jahresberichts World Nuclear Industry Status Report , der die Entwicklungen in diesem Sektor seit 2004 beobachtet.
Nach einem historischen Höchststand im Jahr 1976 ging die Zahl der Baubeginne in den folgenden 20 Jahren stetig zurück und nahm bis 1995 auf Null ab. Die anschließend beobachtete Erholung könnte zu dem Glauben geführt haben, dass das Atom im Rahmen des Klima-Bewusstseins eine „Wiedergeburt“ erfährt. Diese Dynamik, die nie das Niveau der 1960er Jahre übertroffen hatte, und fast ausschließlich auf China begrenzt war, brach nach 2010 wieder zusammen.
Seitdem baut China, das den Großteil der Kernenergie-Projekte konzentriert, in der Tat immer weniger Reaktoren. Grund hierfür sind die immer wettbewerbsfähigeren erneuerbaren Energien. Obgleich dieses Land die größte Anzahl von im Bau befindlichen Reaktoren zählt (bis Mitte 2018 16 von 50 Reaktoren weltweit), hat es in der ersten Jahreshälfte 2018 keine Bauarbeiten begonnen.
Was Europa betrifft, so sind es mit Ausnahme des EPR-Reaktors in Flamanville inzwischen fast dreißig Jahre, dass kein weiterer Reaktor gebaut wurde. Früher, weil fossile Brennstoffe, Kohle und Gas, wettbewerbsfähiger waren. Heute, weil erneuerbare Energien immer attraktiver werden. Die Kernenergie macht inzwischen nur noch einen winzigen Teil der europäischen Investitionen in neue Stromkapazitäten aus: Zwischen 2013 und 2017 waren es 10 Milliarden Euro, gegenüber 315 Milliarden Euro für erneuerbare Energien. Auf internationaler Ebene ist dieser Unterschied noch viel größer… denn leider hat das Wachstum der Investitionen in Ökostrom in den letzten Jahren ohne die Europäische Union zugenommen.
Obwohl die Investitionen in Windkraft und Photovoltaik in der gesamten Europäischen Union seit 2011 stark zurückgegangen und noch immer nicht wieder angestiegen sind, haben sie die Investitionen in die Kernenergie tatsächlich ausgestochen. Darüber hinaus sind die Kosten für erneuerbare Energieträger stark gesunken. Infolgedessen wird die Kluft zwischen nuklearen und erneuerbaren Energien immer größer: Sei es in Bezug auf die Anlage-Kapazitäten oder die Produktionsmöglichkeiten. Zwischen 2000 und 2017 stieg die Produktionskapazität im Bereich der Windkraft und der Photovoltaik um 154 bzw. 106 MW, während die Leistung der europäischen Atomenergie-Anlagen um 19 MW zurückging, zumal die Reaktor-Stilllegungen den Anschluss neuer Einheiten an das Netz übertrafen.
Bei den produzierten Mengen ist der Unterschied noch dramatischer. Die Stromerzeugung aus Wind- und Photovoltaik-Energie stieg in diesem Zeitraum um 120 und 340 TWh, während jene aus Kernenergie um 100 TWh zurückging. Zurückzuführen ist dies hauptsächlich auf Anlagenausfälle aufgrund von Wartungen oder Zwischenfällen, die oft immer länger andauern, was mit der zunehmenden Überalterung der Flotte zusammenhängt.
Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass „schmutzige“ Produktionsweisen (Atomkraft, Kohle, Gas) heute den größten Teil des europäischen Strommixes ausmachen.
Während der Rückgang der Stromerzeugung aus Kohle- und Kernenergie ein grundlegender Trend ist, erlebt Gas, d. h. ein CO2-ausstoßendes Produktionsmittel, einen schnellen Wiederaufschwung. Unterdessen sind potenzialstarke erneuerbare Energien wie Wind und Photovoltaik noch weit davon entfernt, ihre Wettbewerber auszuschalten.
Was die neue Kernkraft betrifft, so scheint sie sowohl in Europa als auch in der übrigen Welt vom Markt verurteilt zu werden. Der Preis pro KWh, wie er in dem von EDF und dem britischen Staat geschlossenen Vertrag über den Bau der beiden Hinkley Point Reaktoren angegeben ist, beläuft sich auf fast 110 Euro. Derartige Reaktoren hat es zuvor noch nie gegeben. Und was die erneuerbaren Energien betrifft, so beläuft sich die jüngste Ausschreibung in Frankreich auf durchschnittlich 55 Euro/MWh für eine Boden-Photovoltaikanlage.
Bei diesem Preis verliert die Kernkraft den einzigen Vorteil, den sie bisher herausstreichen konnte: Ihre Kosten. Und zwar selbst wenn die Verwaltungskosten für die Unterbrechungen erneuerbarer Energien miteinbezogen werden, oder wenn es zu einer möglichen Kostensenkung der Kernenergie kommen würde (auch wenn das keiner aktuellen Marktentwicklung entspricht).
Was die fossilen Energieträger betrifft, so sollte man sich nicht zu sehr auf die Marktkräfte verlassen, um ihr Verschwinden zu garantieren. Ihnen kann einzig und allein dann ein Ende bereitet werden, wenn die Staaten ehrgeizige Maßnahmen treffen. In Europa sind die Kosten für CO2 für die Stromerzeuger bisher viel zu niedrig, um Investitionen in Kohle und Gas zu verhindern. Frankreich sieht sich mit seinem nuklearen „klimafreundlichen“ System gern als Retter seiner europäischen Nachbarn, die sich entschlossen von fossilen Energien trennen sollten, allen voran Deutschland.
Vergessen wird dabei aber, dass dieses Land, wie andere in Europa, nicht nur den Klimawandel und die CO2-Emissionen bekämpfen will, sondern auch – und insbesondere seit Fukushima – der Kernkraft den Rücken kehren will. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die am tiefsten in Kohle und Gas steckenden Länder bereit erklären, zusätzliche Anstrengungen mit ihren Kraftwerken zu unternehmen, wenn das in seiner Kernenergie festgefahrene Frankreich nicht dasselbe unternimmt. In Europa wird es eine Einigung über fossile Energieträger nur dann geben können, wenn es auch ein Abkommen über Spaltstoffe geben wird, und umgekehrt.
[1]Neben der geplanten Abschaltung der beiden Reaktoren im Kernkraftwerk Fessenheim, welche durch die Inbetriebnahme des zukünftigen, im Bau befindlichen EPR-Reaktors in Flamanville kompensiert werden.
[2]Das Ziel Frankreichs und Europas für 2030 ist es, die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 40 Prozent zu senken.
[3]Zwar treibt die Entwicklung des Elektrofahrzeugs die Stromnachfrage an, allerdings wird dieser Trend durch den Rückgang des Verbrauchs ausgeglichen (aufgrund der kontinuierlichen Verbesserung der Effizienz von Elektrogeräten).