Die Flüchtlingskrise ist vor allem eine Krise der Misswirtschaft
Die Debatte auf politischer Ebene lässt eine große Migrationskrise vermuten. Dabei ist diese Krise jedoch keine Migrationskrise. Vielmehr its die Unentschlossenheit der politischen Führungskräfte für die Krise verantwortlich.
Die Flüchtlingskrise ist vor allem eine Krise der Misswirtschaft
Die Debatte auf politischer Ebene lässt eine große Migrationskrise vermuten. Dabei ist diese Krise jedoch keine Migrationskrise. Vielmehr its die Unentschlossenheit der politischen Führungskräfte für die Krise verantwortlich.
Vor fünf Jahren sahen die italienischen und EU-Führungskräfte stillschweigend dabei zu, wie sich in einer Lagerhalle auf der Insel Lampedusa die Särge stapelten. „Särge mit Babys, Särge mit Müttern und ihren gerade geborenen Kindern. Das hat mich zutiefst erschüttert“, sagte der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nach seinem Besuch. Das war Anfang Oktober 2013. Damals waren 373 Menschen vor Lampedusas Küste ertrunken, weil sie nach Hilfe, Asyl und besseren Chancen in Europa strebten.
Die Europäische Kommission kündigte damals zügig große Pläne zur Eindämmung der Todesfälle an. Die Überwachung der Grenzen sollte verstärkt, die Rettung durch Boote sollte nicht bestraft, regionaler Schutz, Umsiedlung und legale Zugangswege nach Europa sollten geschaffen, und die diplomatischen Kanäle zu den afrikanischen Ländern sollten verstärkt werden. Eine ähnliche Melodie erklang Jahre später. Diesmal klang diese aber vielmehr nach einer zunehmenden Sicherung von Grenzen, und dem Willen, die Menschen daran zu hindern, nach Europa zu gelangen.
Am Donnerstag (28. Juni) treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel, um über Migration zu diskutieren, zumal man die internen EU-Asylreformen weitgehend außer Acht gelassen hatte.
Im jüngsten Entwurf der Schlussfolgerungen ist die Rede von einer „wirksamen Kontrolle der Außengrenzen“ und „regionalen Ausschiffungsplattformen“ außerhalb der EU, wo Asylfälle geprüft werden sollen. Momentan werden Sanktionen gegen Rettungsboote von Nichtregierungsorganisation (NRO) verhängt, und teilweise strafrechtlich verfolgt, zumal Italien seine Häfen geschlossen hat. Das deutsche NRO-Rettungsboot Mission Lifeline mit über 200 Personen an Bord hat nach sechs Tagen auf See noch immer nicht auf Malta angelegt.
Ferner gibt es weitere Todesfälle. 2016 wurde der Höchststand von rund 5.100 erreicht. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, in der libyschen Wüste zu sterben, wesentlich größer.
Viele überlebten auch dank italienischer, EU- und NRO-Rettungsbemühungen. Als die Operationen Italiens und der EU allerdings zurückgeschraubt wurden, blieben nur noch die NRO zurück, sowie das zerrissene Libyen, von wo aus nun die meisten Rettungsaktionen durchgeführt werden.
Für die Staats- und Regierungschefs der EU handelt es sich bei der Asyl- und Migrationsdebatte vor allem um Zahlen und Politik. Abgesehen von der Politik zeigen die Zahlen aber, dass Europa ratlos, und nicht in der Lage ist, den Kampf der Öffentlichkeitsarbeit gegen Fremdenfeindlichkeit und populistische Panikmache zu gewinnen, und zwar insbesondere vonseiten des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und des italienischen Innenministers Matteo Salvini.
Obwohl immer weniger Menschen Boote nehmen, um die Südküste Europas zu erreichen, hat die Debatte das tiefste Innere der Europäischen Union erschüttert. Auf dem Höhepunkt kamen im Jahr 2015 über eine Million Menschen auf dem Seeweg an. Allein im Oktober waren es damals 221.000. Inzwischen – d. h. in den letzten sechs Monaten – sind rund 43.000 Menschen angekommen. In Spanien ist ihre Zahl angestiegen.
Ein Grund für diesen Rückgang ist vermutlich ein italienisches Abkommen, das vergangenes Jahr mit den Libyern getroffen wurde, sowie die Bemühungen der EU, die libysche Küstenwache dazu zu bringen, Menschen aus dem Meer zu retten. Hinzukommt auch ein umstrittenes Abkommen, das die EU im März 2016 mit der Türkei geschlossen hat.
In der Zwischenzeit wurden breitere Diskussionen über einen politischen Konsens zur Dublin-Reform verschoben, d. h. der Regelung, die festlegt, wer für die Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig ist. Diese Reform hat tiefe Spaltungen zwischen den EU-Staaten hervorgerufen. Die Visegrád-Gruppe (V4) – ein loses Bündnis der Tschechischen Republik, Ungarns, Polens und der Slowakei – lehnt jeden Plan zur Verteilung oder Verlegung von Asylbewerbern innerhalb der EU ab.
Die EU-Innenminister haben Ende 2015 beschlossen, 120.000 Asylbewerber aus den Frontstaaten Griechenland und Italien unter sich aufzuteilen. Nach Berechnungen der Kommission sollten sie auf der Grundlage der Größe und des Wohlstands der Mitgliedstaaten verteilt werden, wobei Ungarn 1.294 Personen und die Slowakei 902 Personen aufnehmen mussten. Die Tschechische Republik, Ungarn, Rumänien und die Slowakei stimmten gegen diese Regelung. Nach einem Regierungswechsel in Warschau schloss sich später auch Polen an.
Während die zweijährige Regelung inzwischen abgelaufen ist, wurden nur rund 34.000 Menschen tatsächlich umgesiedelt. Die meisten landeten in Deutschland, gefolgt von Frankreich und Schweden. Ungarn und Polen haben keine aufgenommen.
Mit der sich dem Ende neigenden bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft bleiben die großen Themen Dublin und Umsiedlung dennoch weiterhin aktuell. Die Europäische Kommission will bis Ende des Monats fünf der sieben laufenden EU-Asylreformen in Angriff nehmen. So sollen Dublin und die Verordnung über die Asylverfahren bis Ende des Jahres abgeschlossen werden.
Dabei handelt es sich um eine gewaltige Aufgabe. Der belgische Staatssekretär für Asyl und Migration, Theo Francken, hat Anfang des Monats die Dublin-Reform für „tot“ erklärt. Den EU-Ratspräsidentschaften der Slowakei, Malta, Estland und Bulgarien ist es trotz ihrer Bemühungen nicht gelungen, einen Konsens zu erzielen.
Österreich, das gegenüber Migration und Asyl einen unnachgiebigen politischen Kurs eingeschlagen hat, ist nun als nächstes an der Reihe. Sein Kanzler Sebastian Kurz hat die Einrichtung von Asylzentren an einem „unattraktiven Ort“ in Europa vorgeschlagen, und droht mit der Schließung der Brenner-Grenze zu Italien. Ferner passt ihm – wie die obige Grafik zeigt – die Umsiedlung von Asylbewerbern gar nicht in den Kram.
https://euobserver.com/migration/142206