Die europäische Wählerschaft durch die Brille der Nostalgie
Laut einem neuen Bertelsmann-Bericht kann “Nostalgie” als politisches Instrument zur Erweiterung der Wählerschaft eingesetzt werden. Aber wie sieht die europäische Geographie der Nostalgie aus? Und wie unterscheiden sich die politischen Ansichten von Nostalgikern und Nicht-Nostalgikern?
Die europäische Wählerschaft durch die Brille der Nostalgie
Laut einem neuen Bertelsmann-Bericht kann “Nostalgie” als politisches Instrument zur Erweiterung der Wählerschaft eingesetzt werden. Aber wie sieht die europäische Geographie der Nostalgie aus? Und wie unterscheiden sich die politischen Ansichten von Nostalgikern und Nicht-Nostalgikern?
In einem ihrer jüngsten Berichte mit dem Titel Die Macht der Vergangenheit. Wie Nostalgie die öffentliche Meinung in Europa beeinflusst , hat die Bertelsmann Stiftung die europäische Wahllandschaft mit Hilfe des Konzepts der „Nostalgie“ untersucht.
Nostalgie ist bei Weitem kein Gefühl, das nur Einzelpersonen betrifft. Nostalgie ist auch ein „mächtiges Mittel der Politik“, erklärt der Bericht.
Forscher argumentieren, dass sowohl die Anführer der extremen Rechten als auch der extremen Linken – wie Donald Trump, Jeremy Corbyn, Sarah Wagenknecht und Bernie Sanders – „Gefühle der Nostalgie“ ausgenutzt haben, um ihre Wählerschaft zu vergrößern.
Die Analyse untersucht demzufolge:
– Wer sind Nostalgiker in ganz Europa?
– Wo lassen sich nostalgische Menschen auf einem politischen Spektrum von links bis rechts einordnen?
– Welche politischen Richtlinien befürworten nostalgische Wähler?
Die Ergebnisse der Untersuchung beruhen auf einer repräsentativen Umfrage, die im Juli 2018 durchgeführt wurde. Die Datensätze liefern Informationen über die EU28 als Ganzes und über die fünf bevölkerungsreichsten Länder: Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Spanien. Insgesamt haben sich 10.885 EU-Bürger an der Studie beteiligt.
Wie haben die Forscher das „Nostalgie-Niveau“ der Befragten bewertet?
Die Umfrageteilnehmer hatten vier Möglichkeiten, um auf die Aussage zu antworten: „Die Welt war früher ein besserer Ort“. Die Antwortkategorien lauteten: „völlig einverstanden“, „einverstanden“, „nicht einverstanden“ und „absolut nicht einverstanden“. Befragte, die sich für eine der ersten beiden Antworten entschieden, wurden als „nostalgisch“ eingestuft und umgekehrt.
Die Ergebnisse
Insgesamt sind 67 Prozent der EU-Bürger der Meinung, dass die „Welt früher ein besserer Ort“ war.
Während Frankreich, Deutschland und Spanien ähnliche Proportionen aufweisen (65, 61 und 64 Prozent sind nostalgisch), sticht Italien als das nostalgischste Land hervor. Polen hingegen ist scheinbar das zukunftsorientierteste Land.
Was die Verteilung der nostalgischen und nicht-nostalgischen Personen nach Altersjahrgängen betrifft, so zeigen die Daten, dass die Nostalgie mit zunehmendem Alter zunimmt, und zwar bis zu einer bestimmten Schwelle, nämlich den Jahrgängen 36-45. Danach scheint es wenige Unterschiede zwischen relativ älteren und jüngeren Personen zu geben.
Wesentlich ist, dass der Bericht Italien als das Land mit dem höchsten Nostalgie-Niveau unter den 16-25 Jahre alten Menschen beurteilt.
Die Analyse zeigt auch die nostalgischen Wählerschaften in Bezug auf sozioökonomische Gruppen.
Empirische Beweise deuten darauf hin, dass „Männer, Arbeitslose, Menschen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen und Mitglieder der Arbeiter- und unteren Mittelklasse am empfänglichsten für Nostalgie sind“. Interessanterweise scheint die Variable „Landbewohner“ keine entscheidende Rolle zu spielen.
Wie positionieren sich nostalgische Individuen im Vergleich zu Nicht-Nostalgikern entlang des politischen Spektrums? Insgesamt neigen Nostalgiker eher zum rechten Flügel. Länderspezifische Daten deuten darauf hin, dass die Unterschiede in der ideologischen Selbstplatzierung bei den französischen und deutschen Befragten am deutlichsten sind.
Ferner gibt der Bericht Einblicke in die politischen Prioritäten der beiden Gruppen, indem er sich auf zwei der kontroversesten Themen auf EU-Ebene konzentriert, nämlich „Einwanderung“ und „EU-Integration“.
Die Beteiligten wurden gefragt, ob sie mit den folgenden vier Aussagen einverstanden sind oder nicht:
1. Einwanderer nehmen den Einheimischen Jobs weg;
2. Neu Zugewanderte wollen sich nicht in die Gesellschaft integrieren;
3. Einwanderung wirkt sich positiv auf die Wirtschaft aus;
4. Einwanderer bereichern das kulturelle Leben.
Die Forscher konnten zeigen, dass „diejenigen, die der Meinung sind, dass die Welt früher ein besserer Ort war, eher negative Ansichten über die Einwanderung haben“.
Bei der Bewertung der politischen Präferenzen gegenüber der EU scheinen nostalgische und nicht-nostalgische Wähler jedoch weniger weit voneinander entfernt zu sein als erwartet. Dennoch kann man nicht umhin zu bemerken, dass die Ansichten besonders differenziert sind, sobald die Frage „verlassen oder bleiben“ gestellt wird: Der Anteil der „Verbleiber“ ist bei den Nostalgikern deutlich geringer (67 gegenüber 82 Prozent).
Einige Lehren für Mainstream-Parteien
Die Forscherinnen und Forscher teilen ihre Ansichten zu den Daten und stellen fest, dass „das Paradoxon des Erfolgs der nostalgischen Rhetorik“ darin besteht, „dass ihre Konzentration auf eine Vergangenheit mit einer Forderung nach einem radikalen Bruch mit der Gegenwart serviert wird“.
Allerdings sollten wir „den Erfolg einer Rhetorik der Nostalgie“ nicht verwerfen. Mainstream-Parteien sollten „mit den zugrunde liegenden Sorgen und Ängsten umgehen, die die Menschen empfänglich für nostalgische Rhetorik macht“, zumal „Emotionen“ auch weiterhin ihr Verständnis von Gesellschaften beeinflussen wird.
Ausnahmsweise sollen technokratische Lösungen ausgeklammert werden. Vielmehr fordert der Bericht die Politiker auf, „eine Sprache zu entwickeln, die eine konstruktive und produktive Vision für die Zukunft aufzeigt, während sie sich gleichzeitig positiv auf die Vergangenheit bezieht“.