Das Unzählbare: Wie Covid-19 die Gesundheit von Migranten und Flüchtlingen beeinflusst hat

Während COVID-19 im Rampenlicht stand, kümmerte sich die Öffentlichkeit nicht mehr um Flüchtlinge und undokumentierte Migranten. Was diese Gemeinschaften von der Tagesordnung fegte, hat sie jedoch unverhältnismäßig stark getroffen.

Published On: Januar 15th, 2021
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Das Unzählbare: Wie Covid-19 die Gesundheit von Migranten und Flüchtlingen beeinflusst hat

Während COVID-19 im Rampenlicht stand, kümmerte sich die Öffentlichkeit nicht mehr um Flüchtlinge und undokumentierte Migranten. Was diese Gemeinschaften von der Tagesordnung fegte, hat sie jedoch unverhältnismäßig stark getroffen.

Refugees and migrants in Lesbos, Greece, 2020 (photo: © Alexandros Michailidis/Shutterstock)

„Dort, wo ich war, waren nur erwachsene Männer untergebracht. Minderjährige waren aufgrund von COVID nicht erlaubt und die Einsätze von Freiwilligen in den Erstaufnahmezentren wurden ausgesetzt – ebenfalls aufgrund von COVID“, erzählt Franca, eine italienische Krankenschwester, die nach der Ausrufung der Pandemie im März zum Notdienst gerufen wurde.

Zu dieser Zeit lebte und arbeitete sie in Belgien, musste aber alles zurücklassen und zurück in ihr Land ziehen. Mitte August, beschloss Franca dann, als Freiwillige in einem SPRAR-Zentrum (Schutzsystem für Asylantragsteller und Flüchtlinge) in der Nähe von Trapani auf Sizilien zu arbeiten. „Die hygienischen Bedingungen waren sehr schlecht und drei oder vier Personen schliefen im selben Zimmer. Um ehrlich zu sein, fehlte der COVID-Schutz, aber seit letztem Sommer gibt es auch keine Maskenpflicht mehr auf der Straße.“ Franca und ihre Mitfreiwilligen erlebten keine gesundheitlichen Notfälle und ein Arzt war nur für den Fall der Fälle da. In der Tat ist „eine ‚Krankheit’“ für die jungen Männer im Zentrum „etwas ganz anderes“, erklärt sie. 

Dennoch haben mehr als 30.000 Flüchtlinge und Migranten an der allerersten Umfrage der Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilgenommen und über die gravierenden Auswirkungen der Pandemie auf ihre psychische und physische Gesundheit gesprochen. Die Studie, die am internationalen Tag der Migranten veröffentlicht wurde, wirft endlich etwas Licht auf einen Teil der Weltbevölkerung, dessen Gesundheit während der Krise vernachlässigt wurde.

Was geschah also mit den Menschen, die in der Zeit von COVID-19 nach Europa kamen?

Erstens: Ihre Zahl sank.

Ventimiglia ist nach wie vor der geläufigste Grenzübergang für Migranten in Italien. „Hier haben wir immer eine hohe Fluktuation und nach einem kurzen Stopp sind die Zahlen im Sommer wieder gestiegen“, berichtet Jacopo Colomba, Projektkoordinator von WeWorld Onlus . „Auffallend ist, dass allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 12.000 Menschen an der Grenze zurückgewiesen wurden. Interessant ist auch, dass Schmuggler während des ersten Lockdowns mehr Geld verlangten, um Menschen über die Grenze zu bringen, ganze 500 Euro für 40 km.“

Die Pandemie veränderte die Lebensbedingungen und zwang mehr Menschen, im Freien zu leben. „Im April hatten wir zwei COVID-Fälle. Diese und der soziale Alarm waren die Gründe für die Schließung unseres einzigen bestehenden Lagers. Wir hatten keinen richtigen Plan für einen Notfall und die Pandemie hat eine Art ‚Staudamm-Effekt‘ ausgelöst.“

An anderen Grenzen gibt es noch schwierigere Situationen. So sehr, dass The Good Lobby, ehrenamtliche Anwälte von De Brauw Blackstone Westbroek und WeMove Europe im September eine Klage bei der EU-Kommission einreichten, um Griechenland für die Verletzung der Asylgesetze zur Verantwortung zu ziehen. „Seit Mai werden wieder Asylanträge gestellt. Push-Backs[1] gibt es allerdings immer noch: Die Haftbedingungen sind nach wie vor schrecklich und gegen EU-Verfahren wird immer wieder verstoßen“, berichtet der Wahlmacher Giulio Carini. „Beispielsweise müssen die Asylbewerber ein Skype-Gespräch führen und das ist im Moment besonders schwer zu organisieren.“

Anschließend gab es Integrations-Probleme, die teilweise eskalierten. Menschen in Bulgarien und Frankreich konnten keinen Job finden oder nicht einmal einen Bus nehmen. 

Mariana Stoyanova, Programm-Managerin beim Flüchtlings- und Migrationsdienst des Bulgarischen Roten Kreuzes, erinnert sich, dass während des ersten Lockdowns „alles geschlossen war, auch die Parks“. „Die Auswirkungen waren für Asylsuchende besonders schlimm, weil in den sechs bulgarischen Aufnahmeeinrichtungen keinerlei Besucher erlaubt waren. Das war unglaublich schwer“, erzählt sie. „Allerdings führte es zu einem guten Ergebnis, da niemand sich ansteckte. In den Aufnahmeeinrichtungen gab es jedoch etwa 70 Fälle und einige Krankenhausaufenthalte, vor allem, weil sie direkt an den Grenzen aufgenommen wurden.“

Frankreich hat bereits ein Problem der Polizeigewalt gegenüber Migranten. Pierre Roques, der Feld-Koordinator von Utopia 56 in Calais, berichtet: „Terroranschläge werden als Vorwand benutzt. Vor kurzem wurde ein vorübergehendes Unterbringungszentrum eröffnet, aber die meisten Menschen leben immer noch draußen. Das macht es schwierig, COVID-Fälle zu identifizieren. Zudem scheinen sie auch keine große Angst zu haben, was völlig verständlich ist.“

Ellen Ackroyd, eine von zwei Feld-Managern von Help Refugees Calais , erklärt: „Masken werden sehr unregelmäßig verteilt, die Ausgabe ist nicht systematisch. Das ist ein großes Problem, da Menschen ohne Masken nicht in Busse einsteigen oder Geschäfte betreten können. Bis zu einem gewissen Grad sind sich die Vertriebenen der Risiken tatsächlich bewusst. Wie alle Menschen während dieser Pandemie achten auch sie sehr auf Hygiene. Doch im Gegensatz zu den meisten Menschen ist ihr Zugang zu sicheren sanitären Anlagen sehr begrenzt, ein Grundrecht, das vom Staat gewährleistet werden sollte. Das ist auch ein regelmäßiger Grund für den Zorn, denn manche Leute haben seit Monaten nicht mehr geduscht!“

Mindestens 50 Prozent der Befragten der WHO-Umfrage waren der Ansicht, dass sie von der Pandemie in Bezug auf Arbeit, Sicherheit und die finanzielle Situation beeinträchtigt wurden. Laut der Umfrage bekamen besonders die jüngeren Altersgruppen (20-29 Jahre) bestimmte Formen der Diskriminierung zu spüren. Und mindestens 30 Prozent der Befragten fühlten sich aufgrund ihrer Herkunft weniger gut behandelt.

Letzten Endes verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Menschen. „Es sind viele Menschen mit chronischen Krankheiten, die alle zusammen unter schlechten Bedingungen leben, und zwar ohne Medikamente und mit psychologischen Problemen… all das macht mir wirklich Sorgen“, äußert Sanne van der Kooij, eine niederländische Gynäkologin, die Mitglied der Gruppe SOSMoria ist. „Angesichts der zweiten COVID-19-Welle rechne ich mit einem problematischen Winter. Ich denke, dass die Folgen der Maßnahmen gegen COVID-19 ihnen die größten Probleme bereiten werden, zumal sie das Lager nicht verlassen dürfen, isoliert sind und Angst haben.“

Die meisten der Flüchtlinge und Migranten, die an der Umfrage der WHO teilnahmen, trafen Vorsichtsmaßnahmen, um eine COVID-19-Ansteckung zu vermeiden. Wenn sie es nicht taten, dann weil sie es nicht konnten. Nicht weil sie es nicht wollten.

Die Zählung der Fälle und Todesfälle unter Migranten ist jedoch knifflig. Alle befragten Freiwilligen und Experten – in Bulgarien, Frankreich, Griechenland und Italien – sind sich einig: Der Gesundheitszustand ist oft so kritisch, dass sich niemand um COVID-19 kümmert, und wenn doch, gibt es praktisch keine Möglichkeit, Menschen zu testen, die quer durch unseren Kontinent unterwegs sind.

Gleichzeitig zeigen Studien, dass gefährdete Menschen eher krank werden. Das gilt auch für Migranten, vor allem, wenn sie keine Dokumente haben.

Die Umfrage der WHO weist auf die Hauptgründe für die Nichtbeanspruchung medizinischer Versorgung hin: Finanzielle Probleme, die Angst vor Abschiebung, mangelnde Verfügbarkeit von Gesundheitsversorgung oder eine fehlende Berechtigung. Einer von sechs Migranten ohne Papiere würde bei COVID-Symptomen keine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen.

„Migranten ohne Papiere haben viele Schwierigkeiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung“, erklärt Michele LeVoy, Direktorin der Plattform für internationale Zusammenarbeit zu undokumentierten Migrante n (PICUM).

„Da die Gesundheitsversorgung auf nationaler Ebene geregelt ist, ist es Sache der EU-Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob ihnen eine Gesundheitshilfe gewährt wird oder nicht. Das führt zu 27 verschiedenen Systemen in Europa. Selbst wenn die Gesetze ihnen den Zugang zu einem gewissen Maß an Versorgung erlauben, verlangen einige Länder, wie Großbritannien und Deutschland, dass die Gesundheitsverwaltung Menschen ohne Papiere an die Einwanderungsbehörden meldet. In ganz Europa haben viele papierlose Menschen Angst, zu Ärzten oder in Krankenhäuser zu gehen, weil sie befürchten, dass sie gemeldet werden könnten.“

Ganze Gemeinschaften können nicht unsichtbar sein: Vielmehr versuchten die Gastgeber, sie nicht sichtbar zu machen. Bis es unmöglich wurde, so zu tun, als ob jemand nicht da wäre.

Deshalb haben nur sehr wenige Länder – darunter Irland, Portugal und Italien – spezielle Maßnahmen eingeführt, die Migranten ohne Papiere während der Pandemie einen sicheren Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglichen.

„Dieses Jahr hat gezeigt, dass die Pandemie bestehende Verwundbarkeiten von Gruppen innerhalb der Bevölkerung verschlimmert hat und dass die Faktoren, die sie gefährden, noch stärker berücksichtigt werden müssen“, schlussfolgert LeVoy.

„Wenn man bei der öffentlichen Gesundheit klug vorgehen will, darf man niemanden ausschließen. Das Gesundheitswesen kennt keine Grenzen und Viren tragen keine Pässe.“

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