Covid-Impfungen: Die Kosten der Verzögerung

Die Europäische Union versucht gleichzeitig die Gesundheit ihrer Bürger und das Impfstoff-Monopol der Pharmaindustrie zu retten, indem sie eine Liberalisierung der Vakzin-Produktion ablehnt. Damit läuft sie Gefahr, die für die wirtschaftliche Reprise notwendige Herdenimmunität zu verzögern. Teil eins einer dreiteiligen Enquête-Serie.

Published On: März 19th, 2021
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Covid-Impfungen: Die Kosten der Verzögerung

Die Europäische Union versucht gleichzeitig die Gesundheit ihrer Bürger und das Impfstoff-Monopol der Pharmaindustrie zu retten, indem sie eine Liberalisierung der Vakzin-Produktion ablehnt. Damit läuft sie Gefahr, die für die wirtschaftliche Reprise notwendige Herdenimmunität zu verzögern. Teil eins einer dreiteiligen Enquête-Serie.

Die Europäischen Union hat sich in eine « mission impossible » hineinmanövriert, indem sie sowohl die Gesundheit ihrer Bürger als auch die Profite der Pharmakonzerne im Wettlauf um die Herstellung der Covid-Impfstoffe retten will in dieser katastrophalen Gesundheitskrise, die bereits mehr als zweieinhalb Millionen Opfer in einem Jahr gefordert hat.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs wissen natürlich, dass es vorrangig darum geht, Leben zu schützen – das Leben all derjenigen, die sich bereits infiziert haben oder es noch tun könnten, und derjenigen, die durch die Corona bedingten Einschränkungen ihre Lebensgrundlage verlieren. Aber gleichzeitig wagen sie es nicht, die Logik des Profits – Grundlage ihrer Wirtschaftsmodelle – aufzugeben. Und so fördern sie einerseits Massenimpfungen zum Erreichen der Herdenimmunität, riskieren aber andererseits, sie zu verzögern, indem sie die Impfstoffproduktion in den Händen der « Big Pharma“ belassen, anstatt sie zu demokratisieren.

Sowohl die Europäische Kommission als auch die Staats- und Regierungschefs der EU-27 predigen in ihren öffentlichen Reden die Dringlichkeit, Corona-Impfstoffe schnellstmöglich für alle verfügbar zu machen. In der Praxis jedoch zögern sie, die Pharmariesen zu zwingen, einen Teil der Produktion auszulagern, um die Anzahl der Dosen zu erhöhen.

Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, hat diesbezüglich innerhalb weniger Wochen widersprüchliche Aussagen getroffen. Zunächst schlug er die mögliche Nutzung von Artikel 122 des Lissabon-Vertrags für eine zentralisierte Vergabe von Zwangslizenzen vor, was normalerweise eine nationale Kompetenz ist. Dann jedoch bestritt er Anfang März in einem Brief an das Europäische Parlament, dass das Patentmonopol ein Problem sei.

Die einzige Gegenmaßnahme, die die Europäische Kommission bisher getroffen hat, um die Impfstoffversorgung in der EU zu gewährleisten, ist die teilweise Blockierung von Impfstoff-Exporten, was jedoch nur dazu geführt hat, dass anderen Ländern die Vakzine vorenthalten bleibt, ohne dass die Hersteller gezwungen sind, kooperativer zu werden.

Hinkender Wettlauf in der EU und dem Rest der Welt

„Big Pharma“ (die profitabelste aller Industrien) hat die Lieferung von Milliarden von Impfstoff-Dosen angekündigt. Hundertprozentig eingetroffen ist bisher jedoch nur ihr fulminanter Gewinn an der Börse, durch den sich ihre Führungskräfte bereichert haben. Was bleibt ist die Ungewissheit über den Zeitpunkt der Verteilung des Impfstoffs, der entscheidende Faktor also.

Einer Studie der Allianz-Versicherung nach, verliert die EU pro Woche Verzögerung beim Erreichen der Herdenimmunität, die zur Lockerung der Einschränkungen führen würde, 18 Billionen Euro ihres BIP. Wenn die von der Allianz Anfang des Jahres errechnete fünfwöchige Verzögerung nicht aufgeholt wird, würde sich der Gesamtschaden bis Ende 2021 auf rund 90 Milliarden Euro belaufen. Die Wirtschaftsprognose der Kommission, die davon ausgeht, dass 70 % der Bevölkerung bis zum Herbst geimpft sein werden, was zum Erreichen der Herdenimmunität nötig wäre, würde daher nach unten korrigiert werden.

Jüngsten Daten der OECD zufolge haben die wichtigsten EU-Mitgliedstaaten den durchschnittlichen Prozentsatz der täglich geimpften Bevölkerung in den letzten Wochen verdoppelt. Dadurch konnten sie den Rückstand gegenüber den USA und Großbritannien verringern, die die Impfstoffe im Voraus bestellt und zur Freigabe freigegeben hatten und ihre Bürger folglich viermal schneller impfen konnten als die EU, die in der Weltrangliste noch immer mehr oder weniger auf Platz 30 liegt.

Eine Verdoppelung der derzeitigen Impfrate würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass zumindest die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen (20-30 % der Bevölkerung) geimpft würden. Aber selbst bei einem solchen Szenario käme es laut Allianz noch zu einer dreiwöchigen Verzögerung, die insgesamt 63 Milliarden Euro kosten würde. Um diese Verzögerung vollständig auszugleichen, müsste die Impfkampagne deutlich beschleunigt werden auf eine tägliche Impfrate von 1 % der Bevölkerung. „Dies wäre möglich, wenn sich die Produktionsengpässe bis Ende des ersten Quartals 2021 beheben ließen, zum Beispiel durch einen neuen Impfstoff (der im besten Fall nur eine Injektion benötigt) oder die Eröffnung neuer Produktionsstätten“, so die Studie.

Es sind jedoch allein die Pharmariesen, die entscheiden, wo und in welchem Umfang die Impfstoffe produziert werden. Tatsächlich einigten sich die Regierungen auf der Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im vergangenen November darauf, dass die Hersteller zu keinerlei Maßnahmen gezwungen werden können. Ein Fiasko: Big Pharma verweigerte daraufhin sowohl das C-TAP-Pool-Tool zur gemeinsamen Nutzung von Patenten und Technologien als auch den Covax-Fonds, einen globalen Fonds, der aufgelegt wurde, damit Länder mit stärkerer Verhandlungsmacht kollektiv über Impfstoffe verhandeln, um sie zu niedrigeren Preisen fair unter allen Staaten verteilen zu können. Die Pharmafirmen verhandeln jedoch lieber mit jedem Land einzeln und liefern die Dosen zuerst an die Länder aus, die am schnellsten und am meisten zahlen. Bislang haben sie Covax etwas mehr als 2 Milliarden humanitäre Dosen versprochen, die von den reichsten Ländern subventioniert werden (6 Milliarden Euro, darunter fast 1,7 Milliarden von der Kommission und mehreren europäischen Ländern, was der Hälfte der Summe entspricht, welche die Vereinigten Staaten unter der neuen Regierung von Joe Biden angeboten haben). Dies reicht kaum aus, um 20 % der Bevölkerung in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bis Ende des Jahres zu impfen (wenn man für einen vollständigen Schutz eine doppelte Impfung pro Person berechnet).

Mehr Dosen bedeuten mehr Einsparungen für die Bürger

Die EU hat ihren Lieferanten 2,7 Mrd. € an Vorauszahlungen gezahlt, um die Produktion der vereinbarten Dosen (plus 2,5 Mrd. €) zu unterstützen. Die Mitgliedsstaaten können überschüssige Quoten an Länder in Schwierigkeiten verschenken (sie müssen jedoch die vorherige Zustimmung der Erzeuger einholen). Es ist schade, dass es auch für sie nicht reicht, wenn man die angekündigten Lieferverzögerungen bedenkt, die sich bisher angesammelt haben (Pfizer, AstraZeneca, Johnson & Johnson). Angesichts der Auswirkungen von Eventualitäten auf die Anlagenproduktivität haben sich die Unternehmen geweigert, sich auf bestimmte Termine festzulegen. Dies spiegelt sich in den bisher bekannt gegebenen Vereinbarungen der Europäischen Kommission wider (die mit AstraZeneca, Curevac und Sanofi). 

„Wir haben die Produktionsausfälle unterschätzt“, räumt Ursula von der Leyen, die Vorsitzende der Brüsseler Exekutive, ein. „Die Kommission hat einen guten Anfang gemacht, indem sie den kollektiven Kauf von Impfstoffen im Namen aller Mitgliedsstaaten verhandelt hat, aber es war falsch, bis zum Spätherbst 2020 zu warten, um die (teureren) Impfstoffe von Pfizer und Moderna, die eine hohe Wirksamkeit gezeigt haben, vor den anderen zu bestellen, noch dazu in zu geringen Mengen.“ Scott Marcus, ein Experte des Bruegel-Forschungszentrums, kommentiert: „Es hat die Verhandlungen in die Länge gezogen, um niedrigere Preise zu bekommen, aber am Ende hat der Impfstoff weit weniger gekostet als der Anteil des BIP, der dadurch verloren geht, dass nicht sofort genügend Dosen zur Verfügung stehen.

Die Verhandlungsführerin der Kommission, Sandra Gallina, wurde Ende Februar darauf reduziert, den Kauf von Dosen der beiden Präparate von Pfizer und Moderna abzuschließen, nachdem AstraZeneca angekündigt hatte, nicht alle geplanten Dosen liefern zu können.

Unsere Berechnungen zeigen, dass die Kosten für Impfstoffe pro Bürger in der gesamten EU ziemlich ähnlich sind, obwohl sie in den mittel- und osteuropäischen Ländern aufgrund der geringeren Kaufkraft etwas höher sind.

Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist in den am stärksten von der Epidemie betroffenen Nationen deutlich höher, da dort die Ausgaben für den Kauf der Dosen nur einen kleinen Bruchteil des volkswirtschaftlichen Schadens im Jahr 2020 ohne Impfung ausmachen. 

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