Ausgezeichneter Arbeitsplatzzuwachs in der IKT-Branche: Frauen erneut ausgemustert?
Die wachsende Beschäftigung im IKT-Bereich könnte sehr positive Auswirkungen auf die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt haben. Allerdings sind genau diese gefährdet, wenn niemand etwas gegen die derzeitigen Tendenzen unternimmt.
Ausgezeichneter Arbeitsplatzzuwachs in der IKT-Branche: Frauen erneut ausgemustert?
Die wachsende Beschäftigung im IKT-Bereich könnte sehr positive Auswirkungen auf die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt haben. Allerdings sind genau diese gefährdet, wenn niemand etwas gegen die derzeitigen Tendenzen unternimmt.
Die Branche der Informations- und Kommunikationstechnologie (kurz IKT) gilt zurecht als ein schnell wachsender Sektor. Sie ist sowohl ein vielversprechendes Feld für zukünftige Beschäftigung, als auch ein stark an Innovation gebundener Bereich. Allerdings ist sie nach wie vor von geschlechtsspezifischen Dynamiken und Ausgrenzung geprägt, ähnlich wie die meisten anderen Wirtschaftszweige auch.
Die Gründe dafür liegen zweifellos in kulturellen Vorurteilen. So zeigt eine aktuelle Studie, dass von Frauen vorgeschlagene Code-Änderungen zwar häufiger von den Betreibern der Software-Repositorien akzeptiert werden , dies aber nur geschieht, wenn diese nichts vom Geschlecht des Autors wissen. Die geschlechtsspezifische Unausgewogenheit in dieser Branche beginnt also schon in der Ausbildung, die sich wiederum auf die Beschäftigungssituation auswirkt.
IKT-Branche: Ein schnell wachsender Sektor, in dem Frauen am Rande stehen
In der Europäischen Union erlebt die IKT-Beschäftigung derzeit ein sehr schnelles Wachstum, zumal sich die Digitalisierung in der gesamten Arbeitswelt ausbreitet und diese tiefgreifend umgestaltet. Nach Angaben der OECD wird die Beschäftigung in der IKT-Branche wie folgt definiert: Die Personen, die im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) tätig sind. Der Indikator wird als Prozentsatz der Beschäftigung im Unternehmenssektor gemessen. Die Branche ist breit gefächert und umfasst unterschiedliche Berufsbilder wie Systemanalytiker, Softwareentwickler, Telekommunikationsingenieur, IKT-Vertriebsprofis, sowie Grafik- und Multimedia-Designer.
In diesem vielversprechenden Sektor, dessen Beschäftigungswachstum laut Eurostat mehr als achtmal so hoch ist wie das durchschnittliche Beschäftigungswachstum in der EU, sind Spezialisten ganz besonders gefragt. Wie die neuesten Eurostat-Statistiken über schwer zu besetzende Stellen in Unternehmen zeigen, haben Unternehmen in allen europäischen Ländern Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von IKT-Spezialisten, insbesondere die Tschechische Republik, Slowenien, Luxemburg, Österreich, Belgien und Estland. Infolge dieser Entwicklung ist in Europa bis 2020 ein Mangel an 500.000 IKT-Spezialisten zu erwarten .
Ferner kennzeichnen den IKT-Sektor auch starke geschlechtsspezifische Diskrepanzen: Von zehn Stellen sind weniger als zwei von Frauen besetzt. Und besonders offensichtlich wird diese Diskriminierung, wenn es um hochrangige Positionen geht. Die folgende Grafik zeigt den Anteil der Frauen, die als IKT-Spezialisten in europäischen Ländern beschäftigt sind. IKT-Spezialisten sind Arbeitskräfte, die in der Lage sind, IKT-Systeme zu entwickeln, zu betreiben und zu warten, und für welche dies den Hauptteil ihrer Tätigkeit ausmacht. Im Vergleich zu IKT-Technikern nehmen sie damit hochrangige Stellen ein.
Nur in Rumänien und Bulgarien haben Frauen mehr als 25 Prozent dieser Funktionen inne. In jedem anderen europäischen Land stellen sie dagegen weniger als ein Viertel der IKT-Spezialisten.
Die Daten sehen etwas weniger düster aus, wenn man sich die Gesamtbeschäftigungsquote in diesem Sektor anschaut: Unter Berücksichtigung der mittleren und niedrigen Positionen (IKT-Techniker, in der Grafik untenstehend lila-farben) ist die Geschlechterverteilung ausgewogener, insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten.
Dabei fehlte es in diesem Sektor nicht immer an Frauen. Vor allem in Frankreich und den USA war der Frauenanteil in den 1970er und 80er Jahren deutlich höher, was darauf zurückzuführen ist, dass der Großteil der Aufgaben damals als geringfügige Jobs und Büroarbeit angesehen wurde. Mit dem Aufkommen der Personalcomputer-Industrie und der Entwicklung des Internets veränderte sich der Status der IKT-Jobs ebenso wie das geschlechtsneutrale Bild des IT-Technikers: „Geringqualifizierte Dateneingabe und -analyse wurden schrittweise ins Ausland verlagert oder automatisiert“, erklärt das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) in seinem jüngsten Bericht , und fügt hinzu: „Gleichzeitig zogen die hochwertigeren Jobs immer mehr Männer an“.
Die Figur des „Geek“ oder „Hackers“ ist heute sehr eng mit der Männlichkeit verbunden. Laut EIGE gibt es drei Hauptfaktoren, welche die geringe Beteiligung von Frauen erklären: „[ihr] relativer Mangel an Interesse und Qualifikation in diesem Bereich; IKT-Karrieren, die Männer begünstigen; sowie kulturelle Faktoren, die den Zusammenhang zwischen dem IKT-Sektor und der Männlichkeit verstärken“.
Eigentlich könnte sich das Wachstum der IKT-Beschäftigung sehr positiv auf die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt auswirken. Allerdings ist es dazu dringend notwendig, den aktuellen Trends entgegenzuwirken. Der Sektor gilt als ein zentraler Politikbereich der EU, da er für das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung einer wissensgestützten Wirtschaft unerlässlich ist. Aufgrund seiner strategischen Bedeutung und seines vielversprechenden Wachstums hat die EU-Kommissarin für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Mariya Gabriel, kürzlich Maßnahmen angekündigt , die im Laufe der nächsten zwei Jahre umgesetzt werden sollen. Ziel dieser ist es, die Beteiligung von mehr Frauen im digitalen Bereich zu erleichtern, indem digitale Kompetenzen, die Hochschulbildung in IKT-bezogenen Bereichen, und Startup-Unternehmensgründungen erleichtert werden.
Die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt verringern Bildungs- und Lebensentscheidungen, vergrößern das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern, und nähren Vorurteile in einem endlosen Teufelskreis. Wie kann die geschlechtsspezifische Trennung auf dem Arbeitsmarkt überwunden werden?
Auch in der IKT-Branche beginnt die geschlechtsspezifische Kluft mit der Bildung
Die geschlechtsspezifische Kluft im digitalen Sektor gibt Anlass zur Sorge, da in Europa bis 2020 ein gravierender Mangel an digitalen Kompetenzen erwartet wird: Trotz der wachsenden Nachfrage nach IKT-Spezialisten und digitalen Profilen nimmt der Anteil der Europäer mit IKT-bezogener Ausbildung ab. Dies ist zwar ein allgemeiner Trend für beide Geschlechter, aber es gibt dennoch immer weniger Frauen, die IKT-bezogene Berufe und Ausbildungen aufnehmen.
Laut EIGE gibt es in Europa viermal mehr Männer als Frauen mit einer IKT-bezogenen Ausbildung. Und diese Situation scheint sich nicht zu verbessern, schaut man sich den in der folgenden Tabelle dargestellten Anteil der Frauen an, die im Jahr 2016 einen IKT-Abschluss gemacht haben.
Eine weitere von der EIGE hervorgehobene Form der Diskriminierung ist die Tatsache, dass „Frauen in IKT-Berufen in den meisten Mitgliedstaaten in der Regel einen höheren Bildungsabschluss haben als Männer. In der EU haben 73 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Männer im IKT-Bereich einen hohen Bildungsstand.“ Frauen brauchen immer noch höhere Qualifikationen als Männer, um in dieser Branche akzeptiert zu werden.
Dies ist Teil eines allgemeineren Trends bei den Bildungsentscheidungen, der die geschlechtsspezifischen Unterschiede verstärken könnte: Nur ein Drittel der Absolventen der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sind Frauen. Das Bestreben, in einem bestimmten Bereich zu arbeiten, beginnt sich bereits in einem sehr frühen Alter herauszubilden. „Mädchen und Jungen sind der stark getrennten Arbeitswelt und ihren geschlechtsspezifischen Verzerrungen bereits sehr früh ausgesetzt: Sowohl im Schulunterricht, als auch bezüglich des von Frauen dominierten Bildungspersonals”, erklärt EIGE. OECD-Statistiken, die im Rahmen der PISA-Studien erhoben wurden, zeigen, dass sich die Karriere-Erwartungen bereits sehr früh abzeichnen:
Auch Selbstvertrauen entwickelt sich sehr früh im Leben, und es sollte darauf geachtet werden, die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen im Technologiebereich abzubauen. Beispielsweise weist EIGE darauf hin, dass „Mädchen und Jungen im Alter von 15 Jahren bereits über ein unterschiedliches Maß an Vertrauen und Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Geräten verfügen (…). Zum Beispiel versuchen die meisten Jungen, wenn sie ein Problem mit digitalen Geräten haben, dieses selbst zu lösen. Zudem fühlen sie sich wohler als Mädchen, wenn sie digitale Geräte benutzen, mit denen sie sich weniger gut auskennen“.
Eine Chance für Frauen und die gesamte Wirtschaft
Angesichts der Tatsache, dass die Qualität der Arbeitszeit den größten Einfluss auf die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben hat (wie aus der jüngsten Eurofound-Studie hervorgeht , könnten Frauen sehr von der Arbeit in einem Sektor profitieren, in dem die Qualität der Arbeitsplätze sowohl in Bezug auf die Arbeitszeitflexibilität als auch auf das soziale Umfeld höher ist als in den meisten anderen Sektoren). Als einer der am höchstbezahlten Bereiche könnte die IKT-Branche ein Werkzeug zur Verringerung des derzeitigen geschlechtsspezifischen Lohngefälles sein, zumal ein höherer Frauenanteil in IKT-Berufen zu dessen Abbau beitragen würde.
Das EIGE schätzt, dass die Gewinnung von mehr Frauen für den MINT-Sektor „zu einem Wirtschaftswachstum führen würde, sowie zu mehr Arbeitsplätzen (bis 2050 bis zu 1,2 Millionen) und einem langfristigen Anstieg des BIP (bis 2050 auf 820 Milliarden Euro)“.
Damit sich dieses sektorspezifische Wachstum positiv auf die Beschäftigung von Frauen auswirkt, muss sowohl auf politischer Ebene als auch im Bereich der kulturellen Verzerrungen viel getan werden. Bulgarien hat beispielsweise den höchsten Anteil an im Technologie-Bereich arbeitenden Frauen in der EU (35 Prozent), was auf eine Kombination aus Regierungspolitiken und lokalen Initiativen unter der Führung von Frauen in der Technologie zurückzuführen ist. Nichtregierungsorganisationen, welche die geschlechtsspezifischen Diskrepanzen in der IKT-Branche und den MINT-Fächern reduzieren wollen, können ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. So zum Beispiel in Deutschland, wo der Anteil von Frauen in IKT-Jobs in den letzten Jahren stärker zunimmt als in anderen Ländern, insbesondere dank der Aktivitäten von Akteuren wie dem Kompetenzzentrum Technik-Diversity , das eine Brücke zwischen den Bereichen Bildung und Beschäftigung schlägt. Diese Fälle deuten darauf hin, dass staatliche Maßnahmen, die in geeigneter Weise mit Bottom-up-Initiativen kombiniert werden, und lokale Verbände miteinbeziehen, ein wichtiger Schlüssel zum Schutz des IKT-Sektors vor diskriminierenden geschlechtsspezifischen Dynamiken sein könnten, die in den meisten Wirtschaftssektoren allzu häufig vorkommen.