Vom geringen Vertrauen in die Institutionen bis zum Aufkommen der „kritischen Bürgerschaft“?
Eine Eurofound-Studie liefert Daten über das Vertrauen in Institutionen in den EU-Mitgliedstaaten. Eines der im Bericht behandelten Themen betrifft die „kritische Bürgerschaft“. Wir nehmen diese Daten mit Experten aus ganz Europa unter die Lupe.
Vom geringen Vertrauen in die Institutionen bis zum Aufkommen der „kritischen Bürgerschaft“?
Eine Eurofound-Studie liefert Daten über das Vertrauen in Institutionen in den EU-Mitgliedstaaten. Eines der im Bericht behandelten Themen betrifft die „kritische Bürgerschaft“. Wir nehmen diese Daten mit Experten aus ganz Europa unter die Lupe.
Der jüngste Bericht von Eurofound, „Societal change and trust in institutions“ (Gesellschaftlicher Wandel und Vertrauen in Institutionen), zielt darauf ab, „das Verständnis der Entwicklung des Vertrauens in Institutionen zu erweitern“. Die Studie basiert auf Daten aus der Europäischen Erhebung zur Lebensqualität (EQLS) und dem Eurobarometer. Sie vergleicht das Vertrauen in Institutionen vor, während und nach der großen Rezession.
Eines der zahlreichen Themen, auf die sich die Analyse konzentriert, ist das Vertrauen in politische Institutionen, definiert als „Vertrauen in das nationale Parlament und Vertrauen in die nationale Regierung“.
Obwohl auch zahlreiche Informationen über das Vertrauen in unpolitische staatliche Institutionen (Polizei, Rechtssystem) und nicht-staatliche Institutionen (Medien) verfügbar sind, fangen wir bei einer allgemeinen Übersicht über das geringe Vertrauen in politische Institutionen an, und besprechen dann die Daten und Ansichten zum Thema „kritische Bürgerschaft“. Alle in diesem Artikel behandelten Daten beziehen sich entweder auf 2011 oder auf 2016.
Vertrauen in Institutionen: Wer steht an der Spitze? Wer befindet sich ganz unten?
Die folgende Heatmap zeigt, wie unterschiedlich das Vertrauen in politische Institutionen in ganz Europa im Jahr 2016 war. Genauer gesagt zeigt die Karte den Anteil der Menschen, die wenig Vertrauen in die politischen Institutionen ihres Landes haben (geringes Vertrauen wird mithilfe einer Skala von 1 bis 10 definiert: Personen mit einem Wert von 4 oder weniger als 4 gelten als wenig vertrauensvoll).
Griechenland führt die Rangliste der Länder mit dem höchsten Anteil an Menschen an, die ihren eigenen politischen Institutionen nicht vertrauen, gefolgt von Kroatien, Slowenien, Bulgarien, Spanien und Rumänien (jeweils über 50 Prozent). Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die nordischen Länder, Finnland, Schweden und Dänemark sowie die Niederlande. Finnland führt die Rangliste an: Dort haben nur elf Prozent der Bevölkerung wenig Vertrauen in ihre politischen Institutionen.
Für eine etwas dynamischere Perspektive zeigt die folgende Grafik die Entwicklung der gleichen Messung zwischen 2011 und 2016.
Bemerkenswert ist, dass eine überwältigende Mehrheit der Länder durch eine positive Dynamik gekennzeichnet ist, d.h. sinkende Raten von Menschen mit geringem Vertrauen in politische Institutionen. Dieser Trend scheint in einigen Ländern des Ost- und Ostseeraums wie Rumänien und Litauen besonders ausgeprägt zu sein. Andererseits ‚widersetzen‘ sich nur zwei Länder dieser Tendenz: Frankreich und Spanien. Man könnte spekulieren, ob diese Indikatoren ex post als frühes Anzeichen für – einerseits – den Aufstieg der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, und – andererseits – der rechtsextremen Partei Vox in Spanien interpretiert werden könnten.
Von geringem Vertrauen zu Handeln oder Rückzug?
Die Eurofound-Studie eröffnet ein breites Spektrum an Perspektiven für das „gesellschaftliche Vertrauen“ und seine entscheidenden Faktoren. Das Thema „politische Partizipation von Menschen mit geringem Vertrauen“ war für uns jedoch von besonderem Interesse. Die nächste Grafik zeigt den Anteil der Personen, die an politischen Aktivitäten teilnehmen, und zwar von denjenigen, die ein geringfügiges Vertrauen in politische Institutionen haben.
Wie die Autoren des Berichts feststellen: „Geringes Vertrauen führt nicht notwendigerweise zu Disengagement“ (S.3). Dies scheint besonders für die nordischen Länder (siehe Schweden und Finnland), aber auch für die westeuropäischen Mitgliedstaaten (Niederlande, Großbritannien, Belgien, Irland, Luxemburg) zu gelten. Länder aus Mittel-, Ost- und Südeuropa belegen die Positionen unterhalb des Medians (Slowakei = 23 Prozent). Auf der aggregierten Ebene ist bemerkenswert, dass der Anteil der Nichterwerbspersonen in fast allen Ländern (außer Schweden) höher ist als jener der Erwerbstätigen.
Aber was bedeutet eigentlich „politische Partizipation“?
Dem Bericht zufolge basiert „politische Partizipation auf vier Punkten [….]: ‚an einem Treffen einer Gewerkschaft, politischen Partei oder politischen Aktionsgruppe teilgenommen ‘; ‚an einer Demonstration oder Kundgebung teilgenommen ‘; ‚mit einem Politiker oder Beamten Kontakt aufgenommen‘; und ‚eine Petition unterzeichnet haben, einschließlich einer Online-Unterschriftenaktion‘ [….]“ (S. 43 ).
Lorenzo Mosca (Universität Mailand) weist darauf hin, dass „es immer noch notwendig ist, zwischen verschiedenen Formen der Beteiligung zu unterscheiden“. Die politische Partizipation in Form von Teilnahme an politischen oder gewerkschaftsbezogenen Aktivitäten „kann nicht mit der vermeintlichen Unterzeichnung von Online-Petitionen verglichen werden“. „Es gibt Bürger, für die ‚nicht-konventionelle‘ Formen der Beteiligung Unzufriedenheit signalisieren“, meint Mosca.
Tadas Leončikas , Senior Research Manager für Sozialpolitik bei Eurofound, erklärt, dass „einige traditionelle Formen der Beteiligung zwar scheinbar abnehmen, die Unterzeichnung von Online-Petitionen dagegen zunehmen“. Obwohl „einige skeptisch gegenüber dem ‚Tastatur-Aktivismus‘ sind“, machen die Daten zu dieser neuen Form des politischen Engagements deutlich, wie „angemessen“ dieser dennoch sei.
Leončikas ruft auch zum „Nachdenken“ auf und weist darauf hin, dass man sich „angesichts der zunehmenden Verbreitung von Plattformen für elektronische Petitionen/Unterschriften fragen könnte, inwieweit diese ernsthaft bleiben und inwieweit sie durch Big-Data-Werkzeuge manipuliert werden können, wie z.B. die Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen, die Verschmelzung mit Werbung, usw.“
Der Aufstieg oder Fall der „kritischen Staatsbürgerschaft“?
Was das Vertrauen in die politischen Institutionen betrifft, so hat es uns interessiert, die Entwicklung der letzten Jahre auch im Hinblick auf die politische Partizipation zu beobachten. Dementsprechend zeigt die nächste Grafik die Entwicklung des Anteils der politisch aktiven Personen unter jenen mit geringem Vertrauen, und zwar für jeden EU-Mitgliedstaat zwischen 2011 und 2016.
Die Verteilung zwischen Ländern, die eine positive (d.h. zunehmende politische Beteiligung unter denjenigen mit geringem Vertrauen) und negative (d.h. abnehmende politische Beteiligung unter denjenigen mit niedrigem Vertrauen) Dynamik erlebten, zeigt eine in zwei Teile gespaltene EU.
Die Autoren des Eurofound-Berichts schlagen vor: „Wenn der Vertrauensverlust mit einer Zunahme des politischen Engagements einhergeht, kann dies ein Hinweis auf die Zunahme kritischer Bürger sein, die ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Wenn der Vertrauensverlust in Institutionen andererseits mit einer abnehmenden politischen Partizipation einhergeht, kann man davon ausgehen, dass sich politischer Zynismus durchsetzt“ (S.43 ).
Laut dem Bericht „hat die politische Partizipation in Österreich, Belgien, Finnland, Malta, den Niederlanden, Portugal, der Slowakei und dem Vereinigten Königreich unter denjenigen mit geringem politischem Vertrauen tatsächlich zugenommen. In dieser Ländergruppe gibt es also Anzeichen für ein wachsendes kritisches Bürgertum. In einer weiteren Gruppe von Ländern, bestehend aus Griechenland, Zypern, Spanien, der Tschechischen Republik, Kroatien und Rumänien, nahm die politische Beteiligung jedoch bei denjenigen mit geringem politischen Vertrauen ab“ (S.43 ).
Kritische Staatsbürgerschaft: Eine Debatte
Wie können wir die Vertrauensdynamiken in Bezug auf den Aufstieg (oder Niedergang) der kritischen Staatsbürgerschaft interpretieren?
Mariano Votta, Gründer und Direktor des Active Citizenship Network (ein Netzwerk europäischer Bürgerorganisationen, das darauf abzielt, die aktive Beteiligung der Bürger an der europäischen Politik zu fördern), meint, dass „das Vertrauen in Institutionen und die Möglichkeit, individuell etwas zu bewirken, eng miteinander verbunden sind“. „Wenn man sich in der Zivilgesellschaft engagiert, allerdings das Gefühl hat, dass man nicht wirklich viel bewirkt, steigt die Frustration gegenüber dem System, und jeder einzelnen Aktion, die man unternimmt, um das Vorherige zu ändern“, erklärt er.
Mit den Worten von Votta könnte man argumentieren, dass ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip in der Politikgestaltung negative Auswirkungen auf die politische Partizipation haben kann. Dies spiegelt sich in einigen akademischen Ansätzen wider.
Zum Beispiel Prof. Janne Haaland Matlary (Universität Oslo, ehemalige Staatssekretärin für auswärtige Angelegenheiten Norwegens als Vertreterin der Christlich-Demokratischen Partei, 1997-2000), die sich in einem bereits 2017 veröffentlichten Artikel (hier auch eine Videopräsentation ) mit dem Thema beschäftigte. Kurz gesagt vertritt Matlary die Meinung, eine sinnvolle politische Partizipation sei (neben einem gewissen Maß an wirtschaftlichem Wohlergehen) an folgende Elemente geknüpft:
– staatsbürgerliche Bildung zum „Gemeinwohl“ und der Staatsbürgerschaft;
– Institutionelle Strukturen wie gegenseitige Kontrolle, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit;
– Subsidiaritätsprinzip
Aber wie sehr steht diese Theorie mit den Beweisen des Eurofound-Berichts im Einklang? Und wie sehr helfen uns diese theoretischen Kategorien, die in Daten erfassten Dynamiken zu verstehen? Im nächsten Abschnitt werden die Fälle Belgien und Kroatien diskutiert, zwei Länder, die sich an den gegenüberliegenden Enden des Trends befinden, wenn es um die „kritische Staatsbürgerschaft“ geht (siehe Grafik 4).
Kroatien: Niedergeschlagenheit nach dem Beitritt?
Der Fall Kroatien ist wohl einer der interessantesten, da sich der Rückgang der politischen Partizipationsrate über einen Zeitraum erstreckt, in dem das Land außerhalb der EU lag (2011) und anschließend (2016) zu einem regulären Mitgliedstaat wurde.
„Man hatte dieses Gefühl, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, nämlich den Beitritt zur EU“, erzählt Dina Vozab (Universität Zagreb). Sie erinnert daran, dass „der EU-Beitritt lange Zeit die Titelgeschichte in den Medien des Landes war“. In gewisser Weise hätte die von Matlary’s Rahmen abhängige EU die Rolle des „Gemeinwohls“ spielen können, auf das die Bürger gewartet haben. Vozab dagegen meint, dass die Diskussionen in den Medien nicht von einem Anstieg der Mobilisierung begleitet wurden: „Es ging eher von oben nach unten“. Und „beim Referendum zum EU-Beitritt war die Wahlbeteiligung sehr schwach“ (43 Prozent ), erklärt sie.
Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber parallel zum Beitritt „den Schwellenwert, ab dem die Möglichkeit besteht, Volksabstimmungen auszulösen, drastisch gesenkt hat“. In den letzten Jahren scheint es jedoch so, als „haben die rechten zivilgesellschaftlichen Bewegungen am meisten vom neuen institutionellen Umfeld profitiert“. „Diese Bewegungen haben sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen, und sich für Änderungen im Wahlrecht des Landes eingesetzt“, erklärt Vozab. Darüber hinaus wurden „diese Phänomene“ – wie im Falle des EU-Beitritts-Prozesses – „stark mediatisiert“.
Dennoch hätten die Daten diese Bewegungen erfassen sollen. Hat die Bedeutung der rechten Bewegungen die Menschen davon abgehalten, sich aktiv an partizipativen Praktiken zu beteiligen? „Ich glaube nicht“, meint Vozab. Jüngste Studien, die das Verhalten der Jugendlichen in der Wirtschaftskrise untersuchen, deuten auf ein besonderes Verständnis von Politik hin: „Politisches Handeln wird eher strategisch genutzt und wird als Werkzeug für den Einzelnen begriffen, um die soziale Leiter zu erklimmen“.
Vozab fasst die letzten zehn Jahre der kroatischen Politik zusammen und meint: „Es herrschte das Gefühl von mehr Pluralismus und veränderten Machtstrukturen, mit dem Ziel, der EU beizutreten. Dann trat der Mangel an politischen Zielen ein, gefolgt von Desillusionierung. Heutzutage wird Politik in Kroatien als Nullsummenspiel wahrgenommen“.
Belgien: Eine neue Generation aktiver Bürger?
Neben den Niederlanden ist Belgien eines der Länder, in denen die politische Partizipation von Menschen mit geringem Vertrauen in Institutionen zugenommen hat. Darüber hinaus erlebt das Land derzeit eine Flut von Protesten zum Klima, die von jungen Gymnasiasten angeführt werden.
Laut Quentin Genard, Senior Policy Advisor bei E3G und Leiter der Arbeit an der Vision der EU für ein klimaneutrales Europa, können die Menschen „mit der Politik tatsächlich Schwierigkeiten haben, weil das politische System wirklich komplex ist“. So könnten sich die Bürger auf allgemeiner Ebene „entmachtet“ fühlen.
Was also kann die Daten erklären? „Eine wichtige zu berücksichtigende Sache ist, dass Belgien einen der höchsten Anteile von Gewerkschaftsmitgliedern hat, weil die Arbeitslosenleistungen durch sie erfolgen“, erklärt Genard. Doch obwohl dies Licht auf ein insgesamt hohes Niveau der „politischen Partizipation“ werfen könnte, bleibt uns noch der Wandel zwischen 2011 und 2016. „Ein Faktor, der zu dieser Dynamik hätte beitragen können, ist der gesamtpolitische Kontext, denn 2011 befanden wir uns noch inmitten einer langen politischen Krise “, die das Land für mehr als 500 Tage ohne eine gewählte Regierung ließ.
Könnte die von Gymnasiasten angeführte Protestbewegung ein Nebenprodukt des zwischen 2011 und 2016 beobachteten Anstiegs der kritischen Bürgerschaft sein? Und was unterscheidet diese Generation von den vorherigen?
Genard sagt: „In gewisser Weise war die frühere Gruppe der Jugendlichen in Europa ein Produkt des 11. Septembers 2001, während die klimabedingten Proteste diese Generation definieren könnten“. Aber er erklärt auch, dass „die Bedeutung des Themas Klimawandel die Tatsache verdeckt, dass die Schüler viel mehr verlangen: Die Frage der ‚Ungleichheit zwischen den Generationen‘ ist für sie ganz entscheidend“.
Man könnte sich fragen, ob diese Demonstranten tatsächlich in die Kategorie der Bürger mit geringem Vertrauen in politische Institutionen fallen. „Das ist eine interessante Frage. Tatsächlich behaupten Jugendliche in Belgien, dass Politiker sie im Stich lassen. Die Punkte, die sie vorbringen, sind jedoch grundsätzlich politisch”.